Die Unbeugsame
Sidonie von Krosigk brilliert in „Zorngebete“als Berber-Mädchen, das dem derben Leben mit Stolz begegnet
Sidonie von Krosigk hat den letzten Rest der kessen Bibi Blocksberg-Niedlichkeit abgelegt: Mit einer schonungslosen Darstellung des geschwängerten und verstoßenen Berber-Mädchens Ibara aus einem marokkanischen Dorf empfiehlt sich die 27-Jährige kurz vor ihrem Abschied aus dem Ulmer Schauspiel-Ensemble für große Charakterrollen. Im Podium des Theaters Ulm erlebte Saphia Azzedines 2008 erschienener, und seit 2013 auch in deutscher Sprache unter dem Titel „Zorngebete“erhältlicher Debütroman, „Confidences à Allah“, unter der Regie von Ute Rauwald, seine deutschsprachige Uraufführung – mit Sidonie von Krosigk als Idealbesetzung. Ihr gelingt es mit unglaublicher Überzeugungskraft, die Vielfalt von Gefühlen der jungen Frau zu zeigen, die ihre Würde und ihre Eigenart aufrechtzuerhalten versucht, was immer die Männer der patriarchalischen Gesellschaft von ihr verlangen.
Ute Rauwalds Inszenierung wählt einen Blickwinkel aus nächster Nähe: Anis, Künstlerin und Nichte von Ibara, setzt sich rückschauend mit der Familiengeschichte und dem Schicksal der verstoßenen Tante auseinander. Ibara ist schlau, illusionslos und überlebensfähig. Ihre Sprache ist vulgär – eine Derbheit, die der Zuschauer aushalten muss.
Ibara kennt keine gesellschaftlichen oder medizinischen Begriffe für Sexualität und für das, was die Männer mit ihr tun: der Ziegenhirte, dem sie sich für den heiß geliebten Granatapfeljoghurt hingibt, der Sidi, der sie vergewaltigt, all die Männer, mit deren Geld sie sich als Prostituierte in einen kleinen Wohlstand hochschläft. Ibara hat auch keine Worte für ihre Schönheit, die ihr nach einer Haftstrafe wegen Prostitution, die Position der dritten Ehefrau eines Imams verschafft – und den Beginn der Realisierung eines Traumes: Ibara lernt heimlich Lesen und Schreiben.
Bühnenbild braucht „Zorngebete“nicht. Mona Hapke legte den Boden des Podiums mit einem riesigen, ziegenlederfarbenen Stück Stoff aus, das Zelt, Kleidung, Geschlecht oder sandige Landschaft ist. Ibara ist Berberin, ihre Familie lebt zwischen Staub und Dreck. Und in Ibara existiert etwas vom matriarchalischen Stolz der Berber, auch wenn das Volk seit der Zwangsislamisierung die Strukturen des Patriarchats übernommen hat.
Der Nacken der Schafhirtin ist unbeugbar, so sehr sie auch beschmutzt wird. Ein Jammern gibt es nicht für die junge Frau; sie begegnet dem derben Leben, in dem sie nichts als Besitz ist, mit Trotz und einer gewissen Selbstironie. Die Religion, in der Ibara aufwuchs, ist ihr selbstverständlich – und doch zweifelt sie an Allah und seiner Macht. Kommt nicht alles Leben aus der Frau? Ist nicht Allah also eigentlich die Schöpferin, der sich Ibara anvertraut?
Die Stärke der „Zorngebete“ist pathosfreie und wahrhaftige RückEin haltlosigkeit. Ibara bringt ihr Kind im Schmutz der Straße zur Welt und überlässt es den streunenden Hunden. Für ihre Wandlung von der Hirtin, die kein Wasser hat, um sich zu waschen, zur Kurtisane von reichen Scheichs und schließlich zur Ehefrau eines Imams wechselt sie ihre Identität: Sie wird Kaddisha und Sheherazade, trägt Strings aus einem gefundenen amerikanischen Touristenkoffer unter dem aufgezwungenen Ganzkörperschleier, der verhasst ist und doch Schutz vor den selbstherrlichen Hengst-Typen um sie.
Das Tragikomische hat Raum: Als Ibaras Schwester ihre Sehkraft zu verlieren drohte, hatte der Vater nicht die 100 Dinar für den Arzt. Von dem an die Familie geschickten Geld, das Ibara in der Prostitution verdiente, kaufte der Vater für 400 Dinar ein angebliches Haar des Propheten. Ibara kommentiert es nicht. Es täte zu weh. Im Schweigen liegt Zartheit.
„Zorngebete“ist keine Abrechnung mit dem Islam. Es ist ein differenzierter Blick auf gesellschaftliche Strukturen, in denen das individuelle Leben einer Frau oder eines Kindes keinen Wert hat. Und der 90-minütige Nahezu-Monolog ist der wohl stärkste Auftritt Sidonie von Krosigks, die nach ihrer Kinderstar-Karriere 2014 in Ulm ihr erstes festes Engagement annahm. O
Die nächsten Aufführungen von „Zorngebete“sind am 15., 18., 23. und 25. März.