Der beißende Hund läuft den ganzen Tag im TV
Die türkischen Medien schlachten die Vorfälle in den Niederlanden rund um das Auftrittsverbot für Minister propagandistisch aus. Mancher dankt aber auch Europa für die Wahlkampfmunition, die es Präsident Erdogan liefert
Das türkische Fernsehen zeigt die Szenen immer wieder, kaum eine Zeitung verzichtet am Montag darauf, Bilder davon auf die Titelseite zu nehmen: Bei Protesten gegen das Auftrittsverbot für türkische Minister in den Niederlanden beißt sich in Rotterdam ein PolizeiSchäferhund im Bein eines türkischen Demonstranten fest. Der Hundeführer lässt das Tier gewähren, während das Opfer wehrlos auf dem Boden liegt. Die regierungsnahe Zeitung Aksam wählt die Schlagzeile: „Nazi-Hunde“, als i-Punkt dient ein Hakenkreuz.
Polizisten schubsen bei dem Hundeeinsatz einen türkischen Reporter vom Staatssender TRT weg, der aufgebracht ins Mikro spricht: „Da seht ihr das Land der Demokratie, das Land der Menschenrechte.“Das türkische Presseamt verschickt vier Fotos des Hundeangriffs und des blutigen Opfers, dazu eine ganze Phalanx an Pressemitteilungen mit Reaktionen von Regierungsmitgliedern, verteilt auf fünf Sprachen.
Schon die Auftrittsverbote spielten dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan in seinem Wahlkampf vor dem Referendum über das von ihm angestrebte Präsidialsystem in die Hände. Für die brutale Hundeattacke gilt das erst recht. Ein Kleinbus-Manager in Istanbul, der anonym bleiben möchte, sagt, er werde bei dem Referendum zwar mit „Nein“stimmen, also gegen das Präsidialsystem. „Aber wenn ich sehe, was in Holland passiert ist, dann macht mich das wütend. Viele Türken werden sich denken, jetzt stimme ich aus Protest mit Ja.“
Der Abgeordnete Hüseyin Kocabiyik von Erdogans AKP sagt dem regierungsnahen Sender A Haber sichtlich zufrieden: „Lasst uns nicht wütend auf diese Deutschen und Niederländer sein. Vielleicht müssen wir ihnen ein wenig danken. Sie haben etwa zwei Punkte zu unseren Jastimmen beigetragen, da können Sie sicher sein.“Zwei Prozentpunkte, die bei einem knappen Ausgang des Referendums im April über Sieg und Niederlage entscheiden könnten.
Selbst die kemalistische CHP, die gelegentlich vergessen lässt, dass sie eine Oppositionspartei ist, steht in- im Streit um Auftrittsverbote in Europa hinter Erdogan. Die Entscheidung der Niederlande sei „inakzeptabel“und verstoße gegen diplomatische und demokratische Grundprinzipien, schrieb CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu auf Twitter. Die kemalistische Zeitung Sözcü, in Sachen Referendum stramm auf „Nein“-Kurs, hat am Montag den Hundeangriff auf der Frontseite – mit dem Titel: „Was ist das für eine Barbarei“.
Die Auftrittsverbote sind Wasser auf die Mühlen Erdogans, der Europa regelmäßig vorwirft, mit zweierlei Maß zu messen: Während die EU immer wieder Einschränkungen der Meinungsfreiheit in der Türkei anprangert, lässt sie demokratisch gewählte Minister nicht zu Türken in der EU sprechen – so die Anschuldigung. (Dass die Türkei gewählten Bundestagsabgeordneten nicht erlaubt, auf der Luftwaffenbasis Incirlik mit deutschen Soldaten zu sprezwischen findet in der von der AKP befeuerten innertürkischen Debatte keine Erwähnung.) Erdogan wirft den Deutschen „Nazi-Praktiken“vor, die Niederländer bezeichnet er nun als „Nazi-Überbleibsel“und „Faschisten“.
Besonders zwischen den Niederlanden und der Türkei schwelte die Krise am Montag weiter. Ankara forderte eine offizielle schriftliche Entschuldigung für die Auftrittsverbote für türkische Minister in den Niederlanden. Am Montagabend ging die Türkei dann noch weiter: Sie entzog niederländischen Diplomaten die Landeerlaubnis. Der Luftraum für Maschinen mit Diplomaten aus dem Land sei ab sofort gesperrt, sagte der stellvertretende Ministerpräsident Numan Kurtulmus. Gespräche auf höherer Ebene würden zudem bis auf weiteres ausgesetzt. Der niederländische Botschafter, der sich zurzeit im Ausland aufhalte, dürfe vorerst nicht in die Türkei zurückkehren.
Den Haag gab gestern eine Reisewarnung für seine Bürger in der Türkei aus. Darin riet das Außenministerium allen Niederländern zur „Vorsicht“. Sie sollten im gesamten Land Menschenansammlungen sowie belebte Plätze meiden.
Auch Österreich will mögliche Wahlkampfauftritte türkischer Politiker nicht hinnehmen. Nach den gewalttätigen Auseinandersetzungen von Rotterdam sei klar, dass das Land versuchen müsse, solche Auftritte zu unterbinden, sagte Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) am Montagabend im ORF. Die Türkei fahre eine bewusste Eskalationsstrategie, die sie möglicherweise auch in Österreich fortsetzen wolle. Europa dürfe nicht naiv sein. Die beiden Kammern des britischen Parlaments haben der Regierung in London grünes Licht für den Start der Brexit-Verhandlungen gegeben. Wenige Stunden nach dem Unterhaus stimmte am späten Montagabend auch das britische Oberhaus abschließend für das BrexitGesetz. Es ermächtigt die Regierung, bei der EU in Brüssel den Austritt Großbritanniens zu erklären. Danach können die zweijährigen Verhandlungen mit der EU beginnen. Das Oberhaus gab seinen Widerstand gegen den Gesetzentwurf auf, obwohl die Abgeordneten im Unterhaus zuvor Änderungen ersatzlos gestrichen hatten. Zum sechsten Jahrestag des SyrienKriegs hat das Leid der Kinder laut Unicef ein dramatisches Ausmaß erreicht. 2016 sei das bislang brutalste Jahr des Konflikts gewesen, erklärte das Kinderhilfswerk gestern. Es seien drastisch mehr Kinder getötet, verstümmelt oder für den Kampf rekrutiert worden. Offiziell dokumentiert sind laut Unicef mehr als 2500 Fälle von direkter Gewalt und schweren Kinderrechtsverstößen. Das Hilfswerk habe den gewaltsamen Tod von 652 Kindern verifiziert – ein Anstieg um 20 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Auch bei den Rekrutierungen von Minderjährigen durch bewaffnete Gruppen betrug die Zahl mit mehr als 850 rund das Doppelte von 2015. (epd)