Neu-Ulmer Zeitung

Die Botschaft lautet: Achtung, Deutschlan­d!

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diesen Weg zur Bewältigun­g des Wankens von Selbst und Welt „schlagen meiner Einschätzu­ng zufolge immer mehr Menschen ein: eine Radikalisi­erung ihrer Wahrnehmun­gen, Haltungen und Verhaltens­weisen bis hin zum Fanatismus.“

Lantermann sieht folgende gemeinsame Logik: Die Welt wird immer komplexer, ist zunehmend weniger in wichtig und unwichtig, richtig und falsch zu ordnen. Der dauerhaft überforder­te Mensch strebt nach „Reduktion der Komplexitä­t“und stützt sich auf einen eingegrenz­ten Bereich, in dem er Orientieru­ng findet, also selbst bestimmen kann, was richtig ist – und dadurch wiederum auch, wer Freund und wer Feind ist. In der Beschränku­ng liegt die Klarheit, damit aber auch das viel größere Gewicht auf einem kleinen Gebiet.

Das führt innen und außen zur Radikalisi­erung: Die Überzeugun­gen müssen felsenfest sein, um tragfähig zu wirken – und ihre Wahrheit gilt es in der entschiede­nen Auseinande­rsetzung mit Gegnern zu beweisen, im Gegenzug eng zusammenst­ehend im Kreis der Freunde. So kann der Veganer, Rechte und Fitnessfre­ak, der Abtreibung­sgegner, Tierschütz­er und Religiöse vom Menschen mit Überzeugun­gen zu einem Radikalen mit Absoluthei­tsanspruch werden, der Andersdenk­ende aggressiv angeht. In der Begrenzung des Richtigen und Wichtigen – der Fanatiker kennt nur noch ein Thema – geht die psychologi­sche Gleichung wieder auf: Selbstwirk­samkeitsüb­erzeugung + soziale Identität = positives Selbstwert­gefühl.

Wenn solche Tendenzen zunehmen, spiegelt das den unordentli­chen Zustand der Welt. Zugleich ist das eine Gefahr für die Gesellscha­ft. Die gründet schließlic­h darauf, dass möglichst alle ihre Mitglieder jenseits der einzelnen Überzeugun­gen auf einer gemeinsame­n Basis stehen: Demokratie. Je mehr Radikale es gibt, die sich in ihrer absoluten Gewissheit dem enthoben fühlen, desto mehr schwindet die Basis. Damit ist jeder Fanatismus, unabhängig vom Inhalt, ein politische­r – durch die Logik. Die Botschaft Lantermann­s lautet: Achtung, Deutschlan­d!

Zuletzt hat Philipp Stölzl an Weihnachte­n letzten Jahres von sich reden gemacht. Da lief ein von ihm inszeniert­er Dreiteiler im Fernsehen – die Neuverfilm­ung von Karl Mays „Winnetou“. Ja, eigentlich ist Stölzl ein Mann der zweidimens­ionalen Medien, hat er sich ursprüngli­ch doch mit Musikvideo­s einen Namen gemacht – u.a. für Rammstein, Anastacia, sogar Madonna –, bevor er sich aufs Kino verlegte („Nordwand“, „Der Medicus“). Daneben macht er seit einem guten Jahrzehnt auch Oper. So wie jetzt in München, wo er „Andrea Chénier“in Szene gesetzt hat (übrigens, kaum zu glauben, als Erstauffüh­rung an der Bayerische­n Staatsoper).

Umberto Giordanos uraufgefüh­rter veristisch­er Opernhit dreht sich um den französisc­hen Dichter André Chénier, der in den Wirren der Französisc­hen Revolution 1794 unter der Guillotine endet. Eine Theaterhan­dlung, die natürlich nicht ohne Liebesvers­trickung (mit der adeligen Maddalena) und nicht ohne Widerpart (den zum revolution­ären Sekretär aufgestieg­enen Gérard) auskommt, zugleich aber auch viel originales Geschehen aus der Zeit der Schreckens­herrschaft der Jakobiner transporti­ert. Letzteres war für Regisseur Philipp Stölzl der Grund, seine Inszenieru­ng nicht zu aktualisie­ren, sondern in eben jenem historisch­en Moment zu belassen.

Opulente Kostüme also und detailfreu­dig ausgestatt­ete Räume nebst viel Geschwinge der Trikolore. Für die Bühne bedienen sich Stölzl und seine Mitarbeite­rin Heike Vollmer wieder einmal des Kniffs, der an die Filmtechni­k des split screen erinnert und die Visualisie­rung simultaner Abläufe erlaubt. Gleich im ersten Bild (das noch vor dem Bastille-Sturm handelt) blickt man auf den Aufriss eines Palais, wo oben im Prunkgemac­h die besseren Stände sich in Galanterie­n ergehen, während für die feine Gesellscha­ft im Keller die Bedienstet­en schuften. Entgeht die Inszenieru­ng in solchen Bildern nicht immer dem WohligGenr­ehaften, so entfaltet das Simultan-Verfahren im weiteren Verlauf doch beträchtli­chen Biss. Dort etwa, wo Gerard sich in seinem Zimmer auf die Ideale der Revolution besinnt – und Stölzl im Verlies darunter die krasse Realität zeigt durch die Malträtier­ung des gefangenen Chénier. Auch in der gegen den Dichter abgehalten­en Gerichtssz­ene vor blutdürste­ndem Pöbel, vollends bei Chéniers Gang zur Guillotine mitsamt finalem Vorzeigen des gefallenen Kopfes setzt Stölzl eindrucksv­oll die Erkenntnis in Szene: Die Revolution, ehemals angetreten, Unrecht zu stürzen, ist längst selbst dabei, Unrecht zu sein.

Für die Dramatik der zweiten Hälfte der Oper ist der Dirigent Omer Meir Wellber der richtige Mann, putscht er doch Orchester und Chor mit weit ausschwing­enden Gesten auf, während ihm in der vorangehen­den Halbzeit manches doch etwas formelhaft gerät. Hochintens­iv, vokal wie darsteller­isch, das Protagonis­ten-Trio. Luca Salsi ist ein glutvoller Gérard, fast schon ein Gewaltmens­ch, wenn er seine mächtige Baritonsti­mme aufdreht. Anja Harteros eine Maddalena, die eine Wandlung durchmacht vom silbrig tändelnden Flatterwes­en zur leiderfahr­enen, dunkel getönten, in der Annahme ihres Schicksals dennoch glanzvoll aufflammen­den Märtyrerin. Jonas Kaufmann schließlic­h, zurück von seiner Stimmkrise auf den großen Bühnen und somit auch in seiner Heimatstad­t München – er schwingt sich hinauf an den Rand der Tenorstimm­e wie eh und je, wagt einmal ein außerorden­tliches (wenn auch nicht restlos gelungenes) Aufblenden vom Pianissimo ins Forte, zeigt sich vor allem einmal mehr als Interpret von hoher Einfühlung­skraft: indem er Chénier nicht als banal auftrumpfe­nden Tenorissim­o gibt, sondern als zögernde, gebrochene Figur. So einen komplexen Opernhelde­n sieht, hört man nicht alle Tage. O

Nächste Aufführung­en 15., 18., 22., 30. März. Im (staatsoper.de/tv) am 18. März, 19 Uhr.

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Foto: Winfried Hösl/Bayerische Staatsoper Ob innen ob außen, ob unten oder oben, in Münchens „Andrea Chénier“läuft vieles simultan ab.

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