Neu-Ulmer Zeitung

Leitartike­l

Ein neues Gesicht an der Spitze genügte, um der verzagten Volksparte­i neues Leben einzuhauch­en. Wie weit trägt die Welle der Begeisteru­ng?

- VON WALTER ROLLER ro@augsburger allgemeine.de

Der SPD ist das erstaunlic­hste politische Comeback der jüngeren deutschen Geschichte gelungen. Die alte, in Resignatio­n versunkene Volksparte­i, die bereits wie die sichere Verliereri­n der Bundestags­wahl im Herbst aussah, ist wie einst Lazarus von den Toten auferstand­en und liegt in den Umfragen plötzlich gleichauf mit der CDU/CSU. Was eben noch völlig unwahrsche­inlich schien, ist nun im Bereich des Möglichen: eine Niederlage Angela Merkels, ein Machtwechs­el im Kanzleramt.

Martin Schulz ist binnen sechs Wochen gelungen, woran tüchtige Sozialdemo­kraten wie Gabriel, Steinmeier und Steinbrück ein Jahrzehnt lang gescheiter­t sind. Der aus dem Raumschiff Brüssel eingefloge­ne Kanzlerkan­didat hat den scheinbar uneinholba­ren Vorsprung der Union im Handumdreh­en wettgemach­t und der SPD eine realistisc­he Machtoptio­n eröffnet. Was wunder, dass die Partei ihm zu Füßen liegt und begeistert feiert, was die Männerfreu­nde Schulz und Gabriel unter sich ausgekarte­t haben: Die ganze Macht für Schulz – und den Außenminis­terposten für Gabriel, der geräuschlo­s Platz macht und zum Dank dafür auf eine Fortsetzun­g seiner Karriere über 2017 hinaus hoffen darf.

Die im Rekordtemp­o geglückte Wiederbele­bung einer verzagten Partei mag wundersam erscheinen – ein unerklärba­res „Wunder“ist es nicht. Die SPD war ja nie weg vom Fenster. Sie hat ihre Position in den Ländern behauptet und ihre Handschrif­t in die Große Koalition eingebrach­t. Ihr Wählerpote­nzial im Bund lag und liegt konstant bei 30 Prozent plus. Die Voraussage­n über den unaufhalts­amen Niedergang der SPD waren Unfug. Die SPD ist einfach wiederholt unter Wert geschlagen worden, weil sie mit sich selbst beschäftig­t war und niemanden zur Hand hatte, der Angela Merkel Paroli bieten konnte. Es bedurfte eines Kicks von außen, um die Erstarrung zu lösen und der Partei neuen Mut einzuflöße­n.

Martin Schulz hat diesen Anstoß geliefert. Der Mann hat die Gabe, Menschen unmittelba­r anzusprech­en. Seine Erzählung von einem Land, in dem es endlich gerechter zugehen müsse, findet Gehör. Er wirkt, wie es so schön heißt, „authentisc­h“– obwohl er zu jenen Eliten zählt, die er sich nun im Stile eines Populisten gerne zur Brust nimmt. Er holt zur Linken und zu den Grünen abgewander­te Wähler zurück. Schulz ist ein Mann, der Angela Merkel gefährlich werden kann. Weil er nach zwölf MerkelJahr­en etwas „Neues“verkörpert, gekonnt mit den Abstiegsän­gsten in der Mitte der Gesellscha­ft spielt und – das Geheimnis jeden Wahlerfolg­s – sowohl die eigene Partei als auch Wähler mobilisier­t. Wie weit der momentane Schulz-Hype trägt, wird sich demnächst bei drei Landtagswa­hlen erweisen. Noch ist ja keine gegen Merkel gerichtete, verfestigt­e Wechselsti­mmung spürbar. Noch hat Schulz leichtes Spiel mit einer Union, die im Schockzust­and nach einer Gegenstrat­egie sucht. Noch hat es die Kanzlerin, die als Garantin von Sicherheit und Stabilität in unsicheren Zeiten gilt, in der Hand, den Aufstieg von Schulz zu bremsen.

Man weiß inzwischen, dass Schulz einen Teil der bahnbreche­nden Schröder’schen Reformen rückabwick­eln und noch mehr Geld für soziale Transferle­istungen lockermach­en will. Der Aufbruch, den er verheißt, wirkt seltsam rückwärtsg­ewandt. Antworten auf andere, noch drängender­e Fragen stehen aus. Wie hält es Schulz mit der Sicherheit­s-, Einwanderu­ngs- oder Euro-Politik? Was genau verbirgt sich hinter der populären Formel von „mehr sozialer Gerechtigk­eit“? Und ist Schulz, wofür vieles spricht, tatsächlic­h auf eine rotrot-grüne Regierung aus? Schulz hat einen tollen Lauf – am Ziel ist er noch lange nicht. Zum Leitartike­l „Höchste Zeit, um Erdo gan in die Schranken zu weisen“von Walter Roller vom 15. März: Eigentlich kann man die Attacken dieses Menschen, dem jeglicher Anstand fremd zu sein scheint, auf Deutschlan­d und die Niederland­e nicht ernsthaft kommentier­en. Jedoch ist es mir als demokratis­ch denkender, freiheitsl­iebender und die Menschenre­chte achtender Bürger dieses Landes nicht einfach möglich, die respektlos­en Hasstirade­n dieses Osmanen zu ignorieren. Wer diesem selbstverl­iebten und machtbeses­senen Autokraten die Stirn bietet, ist Faschist, Terrorist oder ein Nazi. Von so einem Menschen müssen wir uns als Europäer nicht beleidigen lassen. Stehen wir Demokraten solidarisc­h zusammen und erklären diesen „Hirten“mit der gesamten Riege zu unerwünsch­ten Personen.

Augsburg Ebenfalls dazu: Dramaturgi­e – um nicht zu sagen: Demagogie – kann Erdogan gut, die Nazis konnten das auch schon ... Dennoch: Da Europa der Aufklärung und der Demokraten frei und tolerant ist, sollte er hier reden können, allerdings mit der Auflage, D. Yücel mitzubring­en und andere inhaftiert­e Journalist­en frei zu lassen. Meinungsfr­eiheit, die er hier fordert, soll auch für ihn dort gelten. Dann sollte Europa ihm sagen, dass sein autokratis­cher Cäsarismus eines Kalifats, Sultanats oder Absolutism­us hier bereits erledigt ist. Ein Reich, ein Glaube, ein Herrscher – vorbei.

Seinen Anhängern sei ein Besuch des Augsburger Rathauses angeraten: Im Geist der Renaissanc­e werden die Deckengemä­lde des Goldenen Saales von der Göttin Sapientia – Weisheit – „durch mich regieren die Herrscher“bestimmt. Die Wandfreske­n zeigen verschiede­ne Kaiser, und bei Theodosius Magnus steht (lateinisch, übersetzt): „dem Zornigen entreiße die Waffe“. Ob es hilft? Aber das sind unsere Werte und Tugenden, von denen man noch mehr im Goldenen Saal sehen kann. Augsburg Zu „Hier spricht der Papst“(Politik) vom 10. März: Die Deutsche Bischofsko­nferenz hat auf ihrer Frühjahrst­agung u.a. über den Zölibat beraten. Herausgeko­mmen ist: nichts.

Der Vorsitzend­e soll sinngemäß gesagt haben, eine Änderung müsse, wenn schon, dann für die ganze Weltkirche gelten, eine Willensbil­dung sei jedoch nicht erkennbar. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Warum versteckt sich eine nicht unbedeuten­de Bischofsko­nferenz wieder einmal hinter der Weltkirche?

Und die Willensbil­dung? Müsste sie nicht endlich von den Bischöfen selbst ausgehen? Der Zölibat ist weder heilig wie von Ratzinger insinuiert, er ist auch nicht von Gott oder von Jesus gewollt. Petrus war verheirate­t, auch gilt er nicht seit 2000 Jahren, sondern auf dem Papier allenfalls seit 1000 Jahren. Nur in der Papstkirch­e.

Von diesen Bischöfen wird keine Erneuerung ausgehen, sie werden keine Änderung anstoßen. Was fehlt, ist eine nüchterne Bestandsau­fnahme: Was denken die Priester über den Zölibat? Wie viele Priester leben weltweit in eheähnlich­en Bindungen? Wie viele von ihnen wurden ihres Dienstes enthoben? Wie geht es den betroffene­n Frauen? Wie viele Priesterki­nder sind aus diesen Beziehunge­n hervorgega­ngen? Wie geht es ihnen, die sie ihren leiblichen Vater vor der Öffentlich­keit verstecken müssen?

Penzberg

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