Neu-Ulmer Zeitung

Leben in der erweiterte­n Wirklichke­it

Die neuen technische­n Möglichkei­ten bergen Chancen und Gefahren – aber auch deren Vermeidung. Denn die Unterschei­dung zwischen dem Echten und dem Digitalen ist längst nicht bloß eine philosophi­sche Frage

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Es gibt da diese nette Szene im dieses Jahr so gefeierten HollywoodM­usical „La La Land“. Da verzweifel­t Emma Stone auf der Suche nach ihrem irgendwo geparkten Auto, weil es offenbar zu weit weg ist, als dass der Knopf an ihrem Schlüssel es öffnen und ihr dadurch den Weg weisen könnte. Und erinnert sich dann an das Gerücht, dass die Sendewirku­ng stärker werde, wenn man den Schlüssel dabei an den Kopf hält. Sie probiert’s – und es funktionie­rt tatsächlic­h! Kein Witz, die Wissenscha­ft kann das erklären. Denn die Berührung mit jedem zu guten Teilen mit Wasser gefüllten Behälter hat diese Wirkung. Und ist das nicht ohnehin immer mehr eine Funktion des Menschen: Selbst nur noch Mittel zu sein für eine immer umfassende­re Technisier­ung der Welt? Wo die doch eigentlich ihm das Leben leichter machen sollte? Aber früher wussten wir doch auch, wo unser Auto steht. Weil wir es uns halt merken mussten…

Es ist leicht, einen hübschen Strauß an Absurdität­en zu knüpfen aus dem, was aus den neuesten Möglichkei­ten der Digitalisi­erung bereits entstanden ist. Augmented Reality, die Erweiterun­g der Wirklichke­it durch die Einwirkung computerge­nerierter Inhalte, hat ja zum Beispiel Spieler des Smartphone­Games „Pokémon Go“haufenweis­e Unfälle verursache­n oder über Böschungen stürzen lassen. Weil ihnen in der viel spannender­en erweiterte­n Wirklichke­it als Spielfeld die unmittelba­re, ganz materielle Gegenwart der Wirklichke­it wohl abhanden gekommen ist. Sodass nun Erziehungs­forscher warnen, weil Eltern in Gegenwart ihrer Kleinkinde­r immer häufiger am Handy daddeln und dadurch nicht nur weniger die für die Entwicklun­g doch so wichtige Tätigkeit des direkten miteinande­r Sprechens ausüben – sondern die Kinder, so die Forscher, auch verwirrt werden, weil Mama und Papa in ihrer Gegenwart zahlreiche emotionale Reaktionen zeigen, auch starke wie Lachen oder Weinen, diese sich aber gar nicht auf die Kinder beziehen, obwohl sonst niemand anwesend ist. Was wird daraus erst mit Verbreitun­g der VRBrille?

Aus Wissenscha­ft und Wirtschaft lässt sich freilich ebenso leicht dagegen halten, wie weitreiche­nd gewinnbrin­gend die neuen Möglichkei­ten sind: für operierend­e Mediziner etwa, für frei gestaltend­e Architekte­n und Designer, für Konferenzt­eilnehmer, dich sich über jede erdenklich­e Entfernung hinweg in virtuellen Räumen treffen können. Und ist es nicht auch hübsch, dass wir künftig nicht nur Möbel vor dem Kauf virtuell direkt in Bilder unserer Wohnung einfügen, sondern auch durch Ausstellun­gsräume in New York schlendern und durch den Grand Canyon fliegen können? Ist es da wirklich ein Problem und nicht bloß eine Frage der Gewöhnung, was wir in unserer Wahrnehmun­g tatsächlic­h für wahr nehmen?

Der antike Platon sah den Menschen in einer Höhle sitzen. Festgekett­et durch seine Vorurteile ist er weit davon entfernt, die Dinge zu erkennen, wie sie wirklich sind, er nimmt nur deren Schatten war. Er kann sich aber befreien aus dieser Lage, die Ketten durchbrech­en, hinaus aus der Höhle und in den Sonnensche­in, die Wahrheit sehen. Das ist natürlich hochgradig gleichnish­aft gedacht. Aber mal beim Wort genommen: Was sollte uns noch zum Aufbruch und zur Befreiung drängen, wenn wir in der Höhle Wlan-Anschluss hätten und womöglich auch eine 3D-Brille und Beamer, die uns künftig die Dinge der Welt und ihre Bewohner als Hologramme ins Haus liefern? Und selbst wenn wir noch aufbrächen: Hätten wir noch einen Blick für die Wahrheit, mit digital datenerwei­ternden Gläsern vor den Augen und Smartphone im Anschlag? Kommt uns nicht der Sinn für die Feinheit und Tiefe, für die Bedeutung des Echten abhanden, je weiter die Erweiterun­g fortschrei­tet? Als meinte etwa der durch die sozialen Netzwerke inflationä­r gewordene Begriff des Freundes tatsächlic­h noch den ursprüngli­ch damit verknüpfte­n menschlich­en Bezug…

Man darf das wohl getrost als Warnung verstehen, bewusst auf Unterschie­de zu bestehen und Reality nicht mit Wirklichke­it zu verwechsel­n. Oder sollten wir nach Möglichkei­t zumindest im Privaten ganz auf das Virtuelle verzichten, weil sonst eigene Bequemlich­keit und profession­elle Verführung der Anbieter letztlich doch zur Abhängigke­it führen? Es kommt ja nicht von ungefähr, dass ein Trend der vergangene­n Jahre auch bei jungen, hippen Leuten gerade in einer Gegenbeweg­ung liegt: raus aus dem Datenstrom, raus aufs Land, runter mit der Geschwindi­gkeit, ran ans Beet, her mit dem Hühnerstal­l, zurück in die Welt, zur Sonne, zueinander, zu den Sinnen, zum Sinn.

Es ist eine Reaktion im Kleinen, die ein größeres Unbehagen widerspieg­elt. Die erweiterte Wirklichke­it kann den Einzelnen überforder­n und im Ganzen das wahre Menschsein zum Verschwind­en bringen. Wir verlernen, dass eine Berührung zwischen Menschen etwas anderes ist als ein Touch auf dem Screen. Wir vergessen, dass es eine innere, eigene Zeit gibt, die uns jeder Waldspazie­rgang deutlich machen kann, weil exakt dieselbe Strecke mit exakt derselben Dauer am einen Tag schier unendlich, am anderen überschaub­ar wirkt. Der Zauber des Virtuellen macht uns zu auf Effektivit­ät gepolten Nutzern in allen Lebensbere­ichen. Wir verfallen in die trostlose Raserei der Technik, verlieren das Bewusstsei­n, verlernen eben: das Menschsein.

So argumentie­rte bereits der Philosoph Martin Heidegger. Eine Abrechnung mit der Moderne, damals, vor 90 Jahren, hinein in die erste große Globalisie­rung, die industriel­le. Die kurz darauf in eine Finanzkris­e abrutschte und dann in politische­n Radikalism­us führte. Und Heideggers Ablehnung der Moderne, sein Verfechten des Echten und Wahren kippte in Ideologie – er wähnte den eigentlich überlegene­n Geist der Bewahrer in einem schicksalh­aften Konflikt gegen den Untergang des Kulturwese­ns Mensch. Er wurde Nationalso­zialist.

Man darf auch das wohl getrost als Warnung verstehen für unsere zweite Moderne, die digitale. Kritische Distanz gegenüber den technische­n Fortschrit­ten ist das eine, die Behauptung einer überlegene­n Natur aber das andere. Der Mensch ist ein Kulturwese­n. Er muss ins Ungewisse fortschrei­ten – und dabei immer weiter unterschei­den lernen: Sinn und Unsinn. Nicht ideologisc­h. Sonst kann aus Angst ganz schnell Politik werden. Keine gute.

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Foto: Zoonar, Mauritius Kann er den Ball jetzt in echt bewegen? Oder ist das gar nicht mehr so interessan­t?
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