Leben in der erweiterten Wirklichkeit
Die neuen technischen Möglichkeiten bergen Chancen und Gefahren – aber auch deren Vermeidung. Denn die Unterscheidung zwischen dem Echten und dem Digitalen ist längst nicht bloß eine philosophische Frage
Es gibt da diese nette Szene im dieses Jahr so gefeierten HollywoodMusical „La La Land“. Da verzweifelt Emma Stone auf der Suche nach ihrem irgendwo geparkten Auto, weil es offenbar zu weit weg ist, als dass der Knopf an ihrem Schlüssel es öffnen und ihr dadurch den Weg weisen könnte. Und erinnert sich dann an das Gerücht, dass die Sendewirkung stärker werde, wenn man den Schlüssel dabei an den Kopf hält. Sie probiert’s – und es funktioniert tatsächlich! Kein Witz, die Wissenschaft kann das erklären. Denn die Berührung mit jedem zu guten Teilen mit Wasser gefüllten Behälter hat diese Wirkung. Und ist das nicht ohnehin immer mehr eine Funktion des Menschen: Selbst nur noch Mittel zu sein für eine immer umfassendere Technisierung der Welt? Wo die doch eigentlich ihm das Leben leichter machen sollte? Aber früher wussten wir doch auch, wo unser Auto steht. Weil wir es uns halt merken mussten…
Es ist leicht, einen hübschen Strauß an Absurditäten zu knüpfen aus dem, was aus den neuesten Möglichkeiten der Digitalisierung bereits entstanden ist. Augmented Reality, die Erweiterung der Wirklichkeit durch die Einwirkung computergenerierter Inhalte, hat ja zum Beispiel Spieler des SmartphoneGames „Pokémon Go“haufenweise Unfälle verursachen oder über Böschungen stürzen lassen. Weil ihnen in der viel spannenderen erweiterten Wirklichkeit als Spielfeld die unmittelbare, ganz materielle Gegenwart der Wirklichkeit wohl abhanden gekommen ist. Sodass nun Erziehungsforscher warnen, weil Eltern in Gegenwart ihrer Kleinkinder immer häufiger am Handy daddeln und dadurch nicht nur weniger die für die Entwicklung doch so wichtige Tätigkeit des direkten miteinander Sprechens ausüben – sondern die Kinder, so die Forscher, auch verwirrt werden, weil Mama und Papa in ihrer Gegenwart zahlreiche emotionale Reaktionen zeigen, auch starke wie Lachen oder Weinen, diese sich aber gar nicht auf die Kinder beziehen, obwohl sonst niemand anwesend ist. Was wird daraus erst mit Verbreitung der VRBrille?
Aus Wissenschaft und Wirtschaft lässt sich freilich ebenso leicht dagegen halten, wie weitreichend gewinnbringend die neuen Möglichkeiten sind: für operierende Mediziner etwa, für frei gestaltende Architekten und Designer, für Konferenzteilnehmer, dich sich über jede erdenkliche Entfernung hinweg in virtuellen Räumen treffen können. Und ist es nicht auch hübsch, dass wir künftig nicht nur Möbel vor dem Kauf virtuell direkt in Bilder unserer Wohnung einfügen, sondern auch durch Ausstellungsräume in New York schlendern und durch den Grand Canyon fliegen können? Ist es da wirklich ein Problem und nicht bloß eine Frage der Gewöhnung, was wir in unserer Wahrnehmung tatsächlich für wahr nehmen?
Der antike Platon sah den Menschen in einer Höhle sitzen. Festgekettet durch seine Vorurteile ist er weit davon entfernt, die Dinge zu erkennen, wie sie wirklich sind, er nimmt nur deren Schatten war. Er kann sich aber befreien aus dieser Lage, die Ketten durchbrechen, hinaus aus der Höhle und in den Sonnenschein, die Wahrheit sehen. Das ist natürlich hochgradig gleichnishaft gedacht. Aber mal beim Wort genommen: Was sollte uns noch zum Aufbruch und zur Befreiung drängen, wenn wir in der Höhle Wlan-Anschluss hätten und womöglich auch eine 3D-Brille und Beamer, die uns künftig die Dinge der Welt und ihre Bewohner als Hologramme ins Haus liefern? Und selbst wenn wir noch aufbrächen: Hätten wir noch einen Blick für die Wahrheit, mit digital datenerweiternden Gläsern vor den Augen und Smartphone im Anschlag? Kommt uns nicht der Sinn für die Feinheit und Tiefe, für die Bedeutung des Echten abhanden, je weiter die Erweiterung fortschreitet? Als meinte etwa der durch die sozialen Netzwerke inflationär gewordene Begriff des Freundes tatsächlich noch den ursprünglich damit verknüpften menschlichen Bezug…
Man darf das wohl getrost als Warnung verstehen, bewusst auf Unterschiede zu bestehen und Reality nicht mit Wirklichkeit zu verwechseln. Oder sollten wir nach Möglichkeit zumindest im Privaten ganz auf das Virtuelle verzichten, weil sonst eigene Bequemlichkeit und professionelle Verführung der Anbieter letztlich doch zur Abhängigkeit führen? Es kommt ja nicht von ungefähr, dass ein Trend der vergangenen Jahre auch bei jungen, hippen Leuten gerade in einer Gegenbewegung liegt: raus aus dem Datenstrom, raus aufs Land, runter mit der Geschwindigkeit, ran ans Beet, her mit dem Hühnerstall, zurück in die Welt, zur Sonne, zueinander, zu den Sinnen, zum Sinn.
Es ist eine Reaktion im Kleinen, die ein größeres Unbehagen widerspiegelt. Die erweiterte Wirklichkeit kann den Einzelnen überfordern und im Ganzen das wahre Menschsein zum Verschwinden bringen. Wir verlernen, dass eine Berührung zwischen Menschen etwas anderes ist als ein Touch auf dem Screen. Wir vergessen, dass es eine innere, eigene Zeit gibt, die uns jeder Waldspaziergang deutlich machen kann, weil exakt dieselbe Strecke mit exakt derselben Dauer am einen Tag schier unendlich, am anderen überschaubar wirkt. Der Zauber des Virtuellen macht uns zu auf Effektivität gepolten Nutzern in allen Lebensbereichen. Wir verfallen in die trostlose Raserei der Technik, verlieren das Bewusstsein, verlernen eben: das Menschsein.
So argumentierte bereits der Philosoph Martin Heidegger. Eine Abrechnung mit der Moderne, damals, vor 90 Jahren, hinein in die erste große Globalisierung, die industrielle. Die kurz darauf in eine Finanzkrise abrutschte und dann in politischen Radikalismus führte. Und Heideggers Ablehnung der Moderne, sein Verfechten des Echten und Wahren kippte in Ideologie – er wähnte den eigentlich überlegenen Geist der Bewahrer in einem schicksalhaften Konflikt gegen den Untergang des Kulturwesens Mensch. Er wurde Nationalsozialist.
Man darf auch das wohl getrost als Warnung verstehen für unsere zweite Moderne, die digitale. Kritische Distanz gegenüber den technischen Fortschritten ist das eine, die Behauptung einer überlegenen Natur aber das andere. Der Mensch ist ein Kulturwesen. Er muss ins Ungewisse fortschreiten – und dabei immer weiter unterscheiden lernen: Sinn und Unsinn. Nicht ideologisch. Sonst kann aus Angst ganz schnell Politik werden. Keine gute.