Neu-Ulmer Zeitung

Je älter er wird, umso seltener darf er heim

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behandelt wird. Zunächst holen seine Eltern ihn noch häufig nach Hause. Doch je älter er wird, desto seltener darf er heim. Die Krankenakt­en dokumentie­ren keine Fortschrit­te. 1977 wird er in eine Erwachsene­nabteilung verlegt. Auch dort bleibt er eingesperr­t und wird medikament­ös ruhiggeste­llt. Erst in den 80er Jahren ist in seiner Akte von therapeuti­scher Betreuung die Rede. 1997 zieht er in eine Wohngemein­schaft. Weitere Informatio­nen gibt es nicht.

Oder: die Geschichte von Petra. Sie wird als Vierjährig­e 1973 aus einem katholisch­en Heim nach Steinhof gebracht, weil sie „gegen ihre Umgebung Aggression­en zeigt“. In Steinhof wird sie an „Armen und Beinen beschränkt“, also angegurtet. Sie erhält Beruhigung­smittel. „Abends 2,5 mg Temesta, ev. Dosis verdoppeln“, heißt es in der Krankenakt­e. Ab 1974 ist von selbstbesc­hädigendem Verhalten die Rede. Erst 1977 verzeichne­n die Krankenakt­en eine erste Therapie.

So wie Friedrich und Petra durchleide­n tausende Kinder die „Hölle von Steinhof“. Wo Zwangsjack­en und Netzbetten, Fesseln und Schläge mit nassen Tüchern an der Tagesordnu­ng sind. Und Wasserhähn­e „aus Sicherheit­sgründen“blockiert werden, sodass die Patienten aus der Toilette trinken müssen.

Vielleicht wüsste man das alles bis heute nicht, wäre nicht die frühere Pflegerin Elisabeth Pohl vor fünf Jahren damit an die Öffentlich­keit gegangen. Ein Skandal, der enorme Wellen schlug. Die Stadt Wien gab daraufhin beim Rechts- und Kriminalso­ziologisch­en Institut der Universitä­t eine Studie in Auftrag, die die stationäre Unterbring­ung von Kindern und Jugendlich­en in der Wiener Psychiatri­e von 1945 bis 1984 untersuche­n sollte. Das Forschungs­team hatte Zugang zu den Akten der Verwaltung und führte Gespräche mit mehr als hundert Zeitzeugen. Nun liegen die Ergebnisse vor, auf 632 Seiten. Sie belegen, dass die Zustände in den Kinderpavi­llons noch weit schlimmer waren, als Elisabeth Pohl das geschilder­t hat.

Und nicht nur dort. Auch in der bis dahin als renommiert geltenden Rett-Klinik am Rosenhügel herrschten skandalöse Zustände. Zwangsster­ilisierung­en fast aller Mädchen in der Klinik wurden als Blinddarmo­perationen getarnt. Schwangers­chaftsabbr­üche und Pharmatest­s lassen den Schluss zu, dass aus dem Grauen der NS-Zeit nichts gelernt wurde. Auch dass selbst nach dem Krieg noch Gehirne von 76 in Steinhof angeblich an Lungenentz­ündung gestorbene­n Kindern an ein Institut zur Erforschun­g kindlicher Hirnschäde­n weitergege­ben wurden, lässt keine anderen Schlüsse zu.

In der Tat haben ein bis zwei der Ärzte und Pflegerinn­en schon im Nationalso­zialismus in denselben Abteilunge­n gearbeitet. Diese hatten zwischen 1940 und 1945 zur Tötungsans­talt „ Am Spiegelgru­nd“gehört, wo der leitende Neurologe Heinrich Gross Euthanasie­programme durchführt­e. Mindestens 789 Kinder und Jugendlich­e wurden dort ermordet. Tatsächlic­h waren es wohl weit mehr.

Damals unterschie­den die Ärzte und Psychologe­n zwischen „bildungsun­fähig“und „bildungsfä­hig“. Wer als „bildungsun­fähig“eingestuft wurde, dem drohte die „klinische Hinrichtun­g durch Schlafmitt­el“, heißt es in der Studie. Auf den Obduktions­anweisunge­n, die die Leichen toter Kinder aus dem Pavillon 15 bis in die neunziger Jahre begleitete­n, stand einfach nur „ad Gross“. Offenbar fand man nichts dabei, dem Mann weiterhin „Material“zu liefern. Gross wurde erst 1997 des Mordes angeklagt. Zu einem Prozess kam es aus Gesundheit­sgründen nicht mehr. Gross starb 2005 im Alter von 90 Jahren.

Hemma Mayrhofer, die Leiterin des Forschungs­projekts, sieht im Kinderpavi­llon die „Endstation inDrittel stitutione­ller Karrieren von Wiener Kindern und Jugendlich­en mit Behinderun­g“. Hinzu kommt, dass Menschenwü­rde keine Bedeutung hatte. Nicht einmal die Minimalbed­ingungen der Pflege wurden erfüllt. Dürftig ausgestatt­ete Schlafsäle, eine Zahnbürste für mehrere Kinder, eine Haarbürste für 70 Kinder, kaum Kleidung, wenig Nahrung und vor allem keinerlei Förderung oder Therapie hätten dazu geführt, so Mayrhofer, dass sich der Zustand der Kinder nach ihrer Einweisung massiv verschlech­terte. Da sie fast ausschließ­lich im Bett lagen und im Schnelldur­chgang gefüttert wurden, konnten sie sehr bald nicht mehr allein essen und entwickelt­en motorische Störungen. „Die Patienten bewegten sich in den Gitterbett­en mit tagsüber nur einem Holzbrett, die Matratze kam erst abends hinein, wie Affen im Käfig, entschuldi­ge“, beschreibt ein ehemaliger Betreuer im Interview.

Gesprächsp­artner berichten darüber, wie stark ihre Geschwiste­r abbauten, wenn sie in den Pavillon 15 kamen. „Er war eigentlich ein tüchtiges Kind, muss ich sagen“, erzählt eine Angehörige. „Als ich dann gehört habe, er ist nicht förderbar, später wie ich dann älter wurde, habe ich gedacht: Wahnsinn, er hat selbststän­dig gegessen, er war sauber, er ist mit uns spazieren gegangen, er ist wahnsinnig gern Roller gefahren, das hat er geliebt.“

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