Wie sieht der ideale Herrscher aus?
Mozarts „La Clemenza di Tito“als Spiel zwischen Macht und Milde
Am Ende steht der Kaiser in Gärtnerkluft am Bühnenrand: Titos melancholisches Flehen „Götter, wenn zum Regieren ein hartes Herz nötig ist, nehmt mir entweder die Macht oder gebt mir ein anderes Herz“bleibt ungehört. Herrscher und Nichtherrscher gleichzeitig zu sein ist nicht möglich. Das illustriert – eindrucksvoll und mit minutenlangem Applaus und „Bravo!“-Rufen rezipiert - Nilufar K. Münzings Inszenierung der letzten Oper Mozarts, „La Clemenza di Tito“, im Großen Haus des Theaters Ulm.
Wie unterschiedlich doch eine Oper zu unterschiedlichen Zeiten verstanden werden kann! „La Clemenza di Tito“entstand 1791 unter enormem Zeitdruck als Auftragskomposition zur Krönung Kaiser Leopold II. in Prag und wurde lange als Fürstenpropaganda in der Frühphase der Französischen Revolution abgetan. Heute, wiederum in einer Zeit gesellschaftlicher Spaltungen und unter dem Eindruck despotischen Herrscherverhaltens, wird Mozarts (nicht historischer) Tito als Ideal des Versöhners gesehen, der nicht den Tod von Terroristen sucht, sondern darauf setzt, den Frieden innerhalb der Gemeinschaft herzustellen durch Vergebung und Schonung.
Die Stärke von Nilufar K. Münzings Inszenierung, die dem Publikum nicht nur Mozarts geniale Musik in historischer Aufführungspraxis bietet (musikalischer Leiter am Cembalo: Joongbae Jee), liegt in der psychologischen Tiefe der Figur des Tito, ätherisch-schön gesungen vom australisch-irischen Tenor Garrie Davislim. Dieser feingeistige Tito zeigt in starken Momenten alptraumgleich die Ängste und die innere Auseinandersetzung des Herr- schers, der dem Teufelskreis aus Gewalt und Rache entkommen will und doch ahnt, dass Verzeihung nicht alle Schuld aus der Welt schafft. Titos Größe impliziert letztlich, dass der Attentäter Vergebung nicht nur annimmt, sondern auch unter seiner Schuld leidet und Amnestie nicht als Schwäche der Staatsräson interpretiert.
Das derzeitige MusiktheaterKonzept des Theaters Ulm, verstärkt mit Gästen zu arbeiten, geht im Fall dieser Inszenierung auf – begeistern doch neben Garrie Davislim auch Tatjana Charalgina als gedemütigt-rachsüchtige Kaisertochter Vitellia sowie Christianne Bélanger in der ursprünglich für einen Kastraten geschriebenen Rolle des Annio, des Freundes des Attentäters Sesto. Mit dem stärksten Applaus des Abends gefeiert wird jedoch eine am Haus fest engagierte Solistin: I Chiao Shih brilliert sowohl musikalisch als auch mit ihrer psychologisch schlüssigen Schauspielkunst als jener Sesto, der aus Liebe zu Vitellia zum Attentäter wird und sich seine Schuld nicht verzeihen kann.
Mehrdeutig setzt Nilufar K. Münzing beim stark agierenden Chor sowie bei Tito und Sesto Wolfsmasken ein. Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf – aber doch fähig, der Aggression zu widerstehen und die Maske vom Gesicht zu ziehen. Zum Finale aber bleibt in der Figur der Vitellia eine erschreckende archaische Frage nach der Rolle der Frauen im Spiel um Herrschaft unbeantwortet: Sollte es wirklich so sein, dass Frauen solche Männer weniger attraktiv finden, die freiwillig auf Macht verzichten? O 23. und 27. April. 7., 9., 21.,
Wolfgang Rihm, Deutschlands wohl bedeutendster Komponist und Musikvordenker, hat eine im Ganzen unerhörte Werkliste auf hohem und höchstem Niveau vorgelegt: Instrumentalmusiken, Vokalmusiken, starke Opern für Hamburg, Berlin, München, Schwetzingen, Salzburg, aber auch – seinem Elternhaus und seiner Erziehung gemäß – erweiterte Sakralmusiken auf Bibel- und Liturgie-Texte. In bester Erinnerung bleibt unter anderem auch seine Mozart-Huldigung, die 2006 in Augsburg uraufgeführt wurde.
Nun hat der eben 65 Jahre alt gewordene Rihm als „Musica-Viva“-Auftragswerk des Bayerischen Rundfunks ein knapp 90-minütiges Requiem unter dem Titel „Requiem-Strophen“komponiert, nachdem er sich schon 2015 mit den letzten Dingen in „Et Lux“für Streich- und doppeltes Vokalquartett beschäftigt hatte. Aber es gehört ja von jeher zu Rihms Schaffensprozess, dass sich die von ihm aufgegriffenen Themen weiterentwickeln und Kreise ziehen.
Rihm selbst ist schwer erkrankt; schon zur Eröffnung der Hamburger Elbphilharmonie, wo Mitte Januar seine abgeklärte „Reminiszenz“uraufgeführt worden war, konnte er nicht kommen – und nun auch nicht zur Münchner Uraufführung der „Requiem-Strophen“im Herkulessaal unter Chefdirigent Mariss Jansons, die am Freitagabend in BR-Klassik übertragen wurde.
Dass dieses Requiem auf Texte von Rilke, Michelangelo (Sonette), Johannes Bobrowski, Hans Sahl und natürlich auch auf traditionelle Mess-Bestandteile so existenziellernst wie skeptisch-gläubig ausfallen würde, war bei der Gedankenwelt Wolfgang Rihms absehbar gewesen. Dass die vierteilige, musikhistorisch anspielungsreiche Komposition aber nahezu durchwegs derart verhalten, tastend, introvertiert erklingen sollte, wie im Herkulessaal mit dem konzentrierten Einsatz von Chor und Orchester des Bayerischen Rundfunks geschehen, dies war angesichts der potenziellen Schlagkraft des Musikdramatikers Rihm denn doch nicht zu erwarten gewesen. Dynamik, Zeitmaße, Erregung – sie hielten sich in moderaten Grenzen. Nicht die dringliche Fürbitte war wohl erster Kompositionsantrieb, sondern die maßvolle Tröstung der Hinterbliebenen.
Wolfgang Rihm, der aus der Ferne die Uraufführungsproben anhand von tagesaktuellen Aufnahmen verfolgte, hat einen Abgesang geschrieben – einen Abgesang jedoch nicht im Sinne eines ergriffenen Mahlerschen Bekenntnisses, sondern im Sinne weitgefasster abendländischer Todesreflexion. Seine Requiem-Strophen, getragen durch Vokalparts auch eines Baritons (Hanno Müller-Brachmann) und eines hohen Sopran-Duetts (Mojca Erdmann, Anna Prohaska), enden mit den Hans-Sahl-Worten: „Ich gehe langsam aus der Zeit heraus/ in eine Zukunft jenseits aller Sterne,/ und was ich war und bin und immer bleiben werde,/ geht mit mir ohne Ungeduld und Eile,/ als wär ich nie gewesen oder kaum.“
Langanhaltender, warmer Applaus im voll besetzten Herkulessaal der Residenz.