Die Rollläden sind unten, das Schaufenster leer
Lebensmittelladen drin. Aber den gibt es auch nicht mehr“, sagt sie und schüttelt den Kopf.
Seit 70 Jahren lebt Antonie Bitzer in dem Dorf im Unterallgäu, nur ein paar Kilometer von Mindelheim entfernt. Nicht nur der Metzger und der Lebensmittelmarkt sind verschwunden – auch der Bäcker und die Bank haben dichtgemacht. Nicht mal mehr einen Geldautomaten gibt es in dem 820-Einwohner-Ort. Vor allem Senioren leiden unter der Situation. Denn: Wer einkaufen oder einfach nur seine Kontoauszüge abholen möchte, muss mobil sein.
Nassenbeuren ist kein Einzelfall. In vielen Dörfern auf dem Land sterben die Läden. Einer nach dem anderen. Wohin führt das? Bluten kleine Dörfer nach und nach aus? Verschwinden in Zukunft noch mehr Geschäfte? Geht es ohne Auto bald gar nicht mehr? Ein Blick auf die nackten Zahlen zeigt: Genau so könnte es kommen. 11500 Lebensmittelgeschäfte gab es nach Angaben des bayerischen Handelsverbandes vor zehn Jahren im Freistaat. Heute sind es nur noch 9000. „Und die Zahl schmilzt weiter ab“, sagt Verbandssprecher Bernd Ohlmann. Bei den Bäcker- und Metzgerbetrieben sieht es nicht besser aus. Deren Zahl hat sich laut einer Statistik des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks in den vergangenen 20 Jahren halbiert.
Unsere Konsumwelt ist über die Jahre eine andere geworden. Mittlerweile können Lebensmittel mit einem Mausklick im Internet bestellt werden, Supermärkte liefern die gewünschten Waren nach Hau- andere Anbieter schicken fertig gepackte Kochboxen, damit man für keine einzige Zutat mehr das Haus verlassen muss. Sind diese Angebote eine Reaktion auf das Ladensterben? Oder vielmehr deren Ursache? Weder noch, meint Ohlmann vom bayerischen Handelsverband. „Das Ladensterben fing ja nicht erst mit dem Online-Handel an. Aber diese Angebote werden den stationären Handel weiter unter Druck setzen.“
Angesichts der immer dünner werdenden Ladendichte sind nicht nur Konzerne, sondern auch kleinere Unternehmer erfinderisch geworden. Und so stehen dem Ladensterben im ganzen Land viele mobile Konzepte gegenüber. Fahrende Händler gab es zwar schon immer, gerade jetzt aber gewinnen sie mehr und mehr an Bedeutung: Kleinbusse, in denen man nicht nur Butter und Käse, sondern auch Gesichtscremes, Waschmittel oder Zahnpasta kaufen kann. Transporter, die Salat und Gemüse direkt zu den Menschen nach Hause bringen. Brauereien, die die schweren Getränkekisten bis an die Haustür liefern. Oder mobile Bäckerwagen, die landauf landab durch einsame Dörfchen tingeln, aus denen die letzten Backstuben verschwunden sind.
Für die Nassenbeurer ist der Semmelwagen, der dreimal pro Woche in den Ort kommt, die einzige Chance, morgens Brot oder Brezen zu kaufen – wenn sie dafür nicht extra nach Mindelheim fahren wollen. Zwei Bäckereien kommen regelmäßig ins Dorf. An diesem Vormittag steht ein Wagen der Bäckerei Holzheu aus Dirlewang an der Haupt- straße, direkt neben dem Blumenladen. Der ist dem Ort noch geblieben. Im Bäckerwagen steht Christine Schmalholz. Sie trägt einen roten Pullover, darüber eine graue ärmellose Jacke. Glänzende Quarktaschen, mehlbestäubte Brotlaibe, geschnittenes Knödelbrot, puderzuckrige Krapfen, Nussecken, Brezen, Semmeln und Sahnetorten sind in den Auslagen zu sehen. „Der Andrang ist immer groß. Die Menschen warten schon, wenn ich komme“, sagt Schmalholz und reicht einer Kundin zwei Römersemmeln und eine Breze. „Wir haben gesehen, dass es immer weniger Bäcker gibt. Also haben wir das mit dem mobilen Bäckerwagen probiert. Und es wird gut angenommen.“
Immer mehr Menschen kommen, kaufen Semmeln und plaudern ein bisschen mit der Verkäuferin. Dorfse, gespräche fanden früher in den kleinen Läden statt – weil es die nicht mehr gibt, ist nun die Straße vor dem Bäckerwagen der soziale Treffpunkt. Eineinviertel Stunden bleibt Christine Schmalholz in Nassenbeuren, dann fährt sie weiter. In das nächste Dorf ohne Bäcker. Sechs Orte liegen auf ihrer Route – und immer, wenn sie gegen halb zwölf wieder nach Dirlewang zurückkehrt, ist die mobile Bäckerei nahezu ausverkauft.
Angebote wie dieses bringen nicht nur Lebensmittel ins Dorf – sondern beliefern die Menschen auch mit einem Stück Unabhängigkeit. Gerade für Senioren, die nicht mobil sind, sind solche Konzepte ein Stück Lebensqualität. Sie bieten den Menschen die Chance, selbstständig zu bleiben, einfach mit der Einkaufstasche vor die Tür zu gehen und sich eine Brotzeit zu kaufen – ohne mobile Angebote geht das meist nicht. „Senioren, die nicht selbst mit dem Auto fahren können, haben es schwer“, sagt Martha Paul. Die 76-Jährige steht unter dem weißen, ausgeklappten Vordach des Bäckerbusses und packt einen Brotlaib in ihren Weidenkorb. Noch könne sie zwar selbst fahren. „Aber man weiß ja nie“, sagt sie, verabschiedet sich von der Verkäuferin und biegt nach links in eine schmale Straße ein. Während sie ihren Einkauf nach Hause trägt, erzählt sie. Vom Leben auf dem Land. Von Erinnerungen an damals. Und von der Sorge vieler Senioren, es irgendwann nicht mehr alleine zu schaffen. Vor einigen Jahren hat Martha Paul am eigenen Leib erfahren müssen, wie schnell man auf andere angewiesen sein kann. Sie hatte einen Hörsturz und schaffte es nicht mehr, mit dem Auto die zehn Minuten nach Mindelheim zu fahren. „Das ist schlimm, wenn man für jede Kleinigkeit jemanden braucht“, sagt sie.
In Nassenbeuren gibt es zwar einen Bahnhof, eine echte Alternative sei der aber nicht. Vor allem, weil man von der Station in Mindelheim noch ein gutes Stück zu den Geschäften laufen müsse, um dann, mit Tüten bepackt, wieder heimzufahren. Nichts für ältere Menschen, die nicht gut zu Fuß sind. Ein kleiner Dorfladen wäre da um einiges praktischer, sagt Martha Paul. Deswegen glaubt sie auch: Gäbe es wieder ein Geschäft in Nassenbeuren, würde das auch von den Menschen angenommen werden.
Professor Thomas Roeb, der sich