Mama, fahr den Wagen vor!
Kurz vor Schulbeginn ist Chaos angesagt an vielen Schulen und Kindergärten. Das sagen zumindest Lehrer und Erzieher. Denn immer mehr Eltern bringen ihre Kinder per Auto dorthin. Wie gefährlich ist das wirklich?
sicht im absoluten Halteverbot“, sagt Leiterin Patricia Geiger. „Der Abstand zu Kurven wird nicht eingehalten, die Geschwindigkeitsbegrenzung in der Spielstraße auch nicht.“Für Geiger und ihre Kollegen ist das Stress pur: „Da muss man seine Augen überall haben.“
Auch an der Grundschule Ecknach im Kreis Aichach-Friedberg herrscht laut Rektorin Barbara Hierdeis jeden Morgen dieses „Chaos“. Hierdeis hat kürzlich als „letzten Hilferuf“unsere Zeitung eingeladen, um ihr Dilemma zu schildern. Auch der Bürgermeister war da.
Bayernweit ist die Zahl der Schulweg-Unfälle bis zum Ende des Schuljahres 2015/2016 um sechs Stadt rät er davon ab, die Kinder schon zu Beginn der Grundschule allein mit dem Rad auf den Weg zu schicken. Man wisse aus der pädagogischen Forschung, dass Kinder erst ab acht bis neun Jahren in der Lage sind, sich mit dem Fahrrad sicher im Verkehr zu bewegen. Bührle hat auch Verständnis dafür, wenn es morgens stressig wird und man das Kind ins Auto packt. „Auch Eltern haben mal Termine.“Gefährlich werde es erst, wenn bei all dem Stress die Verkehrsregeln aus dem Kopf verschwinden.
Die Lehrer an der LaurentiusGrundschule in Bobingen versuchen regelmäßig, auf die Eltern einzuwirken. Alle paar Wochen schicken sie morgens die Viertklässler auf die Straße, ausgestattet mit selbst gebastelten Schildern. In Rot signalisieren sie den Elterntaxis: „Stopp! Hier darfst du nicht halten.“Auf grünen Plakaten steht: „Super! Hier kannst du aussteigen.“Klassenleiterin Katharina Ranz hat die Schilder mit den Kindern im Verkehrserziehungs-Unterricht gebastelt.
Zur Unterstützung wacht an diesem Tag Polizeioberkommissar Roland Schur mit leuchtend gelber Warnweste über die Schulzufahrt. „Der Standardspruch der Eltern ist, dass sie nicht vom Parkverbot wussten“, erzählt Schur. Oft stimmt das nicht. Schur ermahnt einen Vater im dunklen Passat, weil er seine Tochter im Halteverbot aussteigen lässt. Am Tag zuvor hat das Kind selbst noch bei der Aktion gegen die Wildparkerei mitgemacht.
Der größte Teil der Eltern jedoch hält sich diesmal an die Regeln – vermutlich, weil der Polizist da steht. Die Autos parken ordnungsgemäß in den Seitenstraßen oder Parkbuchten ein paar Dutzend Meter entfernt vom Schuleingang. Auf dem Lehrerparkplatz stehen nur der rote VW-Käfer des Schulleiters und die Wagen der Lehrkräfte, die zur ersten Stunde da sind. Ein Vater stellt seinen blitzblank geputzten Golf ordnungsgemäß in einer Parkbucht ab. Die zwei Töchter greifen nach seinen Händen und ziehen ihn in Richtung Schultür. Das Haus seiner Familie sei nur ein paar Minuten entfernt, erzählt er im Vorbeigehen. Warum er seine Kinder trotzdem im Auto zur Schule bringt? „Ich bin nur selten zu Hause. Für die Kinder ist es das Highlight der Woche, wenn ich sie fahre.“An allen anderen Tagen würden sie natürlich laufen.
Gut so, sagt Henrike Paede aus Stadtbergen im Kreis Augsburg. Sie ist stellvertretende Vorsitzende des bayerischen Elternverbands. „Ich habe den Eindruck, dass die Elterntaxis in den vergangenen Jahren immer mehr geworden sind.“Gut findet sie das nicht – genauso wenig übrigens wie die Elternbeiräte an vielen bayerischen Schulen.
Oft haben die Elternvertreter selbst Merkblätter erstellt, die unvernünftigen Müttern und Vätern das richtige Fahren vor dem Schulhaus predigen. Henrike Paedes Kinder sind längst alt genug, um allein ihren Weg zu gehen. Doch auch früher hat sie sie nie zur Schule gefahren. „Ich verstehe natürlich, dass Eltern sich wahnsinnig um die Sicherheit ihrer Kinder sorgen. Aber sie sollten lieber Vertrauen in deren Fähigkeiten aufbauen.“
Der ADAC hat 2015 einen Leitfader den für Eltern und Schulen veröffentlicht, der die Situation entschärfen soll. Dafür fragte der Automobilklub bei Eltern in NordrheinWestfalen nach, warum sie ihr Kind am liebsten selbst zur Schule bringen – und oft auch wieder abholen. Das Ergebnis überrascht nicht: Sie meinen es nur gut. Fast zwei Drittel gaben an, ihr Kind vor Belästigungen schützen zu wollen. Nahezu 60 Prozent der Befragten halten den Radweg für zu unsicher, mehr als die Hälfte möchte ihr Kind davor bewahren, dass es womöglich bei Wind und Regen ungeschützt nach draußen muss.
Einer, der ziemlich wenig von zu viel Fürsorge hält, ist Josef Kraus. „die Grenzen zwischen Vorsicht und Panik zu verschwimmen“. Ihre Befürchtungen lägen „um Lichtjahre neben der Realität“, so der harte Vorwurf. Erst kürzlich hat Kraus wieder eine Geschichte aus einer bayerischen Kleinstadt gehört, die ihn in seiner Ansicht bestätigt. „Zwei Mamas wechseln sich dort wöchentlich im Fahrdienst ab. Mama A lässt ihre Kinder aber nur dann mit Mama B mitfahren, wenn Mama B dazu nicht ihren Kleinwagen, sondern wegen der größeren Knautschzone den SUV nimmt.“
Die Limousinen, SUVs und Kombis der Eltern mögen Trutzburgen sein. Doch beim ADAC fürchtet man trotzdem um die Verkehrssicherheit der Generation Rücksitz, wie ein Sprecher betont. Es sei bewiesen, dass es gut für die Entwicklung eines Kindes ist, wenn es den Schulweg allein bewältigt. „Es lernt, sich auf wichtige Dinge zu konzentrieren, wird selbstständig und sicher.“
Der Bobinger Polizist Roland Schur hat noch etwas anderes festgestellt: „Viele Schüler können heute schlechter Rad fahren als früher. Das sieht man in der Jugendverkehrsschule.“Auch die Statistik belegt es. Zwar schafften in den vergangenen Jahren konstant etwa 93 Prozent der Viertklässler die Fahrradprüfung. Doch es sind vor allem Schüler vom Land, die die Quote retten. Sie bewegen sich auf zwei Rädern fast so sicher wie auf zwei Beinen. Ralf Bührle vom Augsburger Polizeipräsidium erzählt von Landkreisen, wo fast 100 Prozent der Viertklässler die Radfahrausbildung bestehen. In Großstädten wie Augsburg hingegen hätten rund zwölf Prozent der Kinder die Prüfung zuletzt nicht geschafft. Das liege daran, dass dort vermehrt Schüler aus Ländern lernen, in denen das Fahrrad als Fortbewegungsmittel kaum eine Rolle spielt, Syrien zum Beispiel.
Aber da sind eben auch noch die Stadtkinder, die jeden Tag in Mamas oder Papas Auto steigen. Der berühmte Wimpel, den Generationen von Kindern wie eine Siegesfahne am Fahrrad spazieren fuhren, baumelt immer seltener an ihrem Rad. Bührle wundert das nicht. „Auf dem Rücksitz kann man schließlich keine Verkehrsregeln lernen.“