„Die Justiz wurde kaputtgespart“
Andrea Titz, die Vorsitzende des Bayerischen Richtervereins, beklagt die mangelnde Ausstattung der Justizbehörden. Und sie warnt vor einem Vertrauensverlust in der Bevölkerung
Frau Titz, ist die deutsche Justiz überlastet?
Ja. Die offiziell ermittelten Zahlen zeigen eindeutig, dass in Deutschland circa 2000 Richter und Staatsanwälte fehlen. Sehr viele Kolleginnen und Kollegen arbeiten jenseits der Belastungsgrenze. Mehr geht nicht. Wie konnte es zu dieser dramatischen Situation kommen?
Das hat mehrere Gründe. Erstens ist die Justiz in vielen Bundesländern über viele Jahre hinweg kaputtgespart worden. Denn die Politik hat offenbar vielerorts den Wert einer funktionierenden Justiz verkannt. Und zweitens kommen immer neue Aufgaben auf uns zu. Nehmen Sie nur die Internet- und Computerkriminalität. Oder die Bedrohung durch Terroristen. Die nationale Sicherheit Deutschlands ist bedroht wie selten zuvor. In dieser Situation ist der Ruf nach der Justiz sehr laut.
Ist die Lage in Bayern auch so prekär?
In Bayern haben wir in den vergangenen Jahren viele Richter- und Staatsanwaltsstellen bekommen. Das muss man fairerweise sagen. Dennoch bleibt festzuhalten: Auch im Freistaat fehlen mehrere hundert Stellen.
Den rund 3,5 Millionen Straftaten, die von der Polizei jährlich geklärt werden, stehen bundesweit 5200 Staatsanwälte entgegen. Ist das ein günstiges Verhältnis?
Nein. Und die Schieflage wird noch größer werden, weil Bund und Länder die Polizei massiv aufgestockt haben. Mehr Polizisten bedeuten mehr Verfahren. Dann wird die Strafjustiz zum Flaschenhals.
Und im schlimmsten Fall müssen Gefangene dann aus der Untersuchungshaft entlassen werden, weil das Verfahren zu lange dauert ...
Das sind Einzelfälle, aber sie kommen vor, und das ist nicht akzeptabel.
Auch die Dauer der Verfahren an Landgerichten ist spürbar gestiegen. Lag sie 2005 noch bei 3,2 Verhandlungstagen, betrug sie 2015 schon 4,3 Tage. Auch eine Folge des Personalmangels?
Der Durchschnitt ist in Deutschland noch recht gut, vor allem, wenn man ihn mit anderen
vergleicht. Aber es gibt zu viele Verfahren, die zu lange dauern. Das liegt aber nicht nur am Personalmangel, sondern auch an der höheren Komplexität der Verfahren. Für ein Wirtschaftsstrafverfahren brauchen Sie heute hoch spezialisierte Fachleute. Da steht schnell ein Staatsanwalt einer Armada von 20 Fachanwälten gegenüber. Da kommen wir an Grenzen. Und dann
steigt die Neigung zu Verfahrensabsprachen. Haben wir da etwa ein Gerechtigkeitsproblem in Deutschland?
Ich sehe keine Instabilität des Rechtsstaats, wenn Sie das meinen. Die Justiz ist an ihrer Belastungsgrenze, aber sie funktioniert. Allerdings ist sie auf das Vertrauen und die Akzeptanz der Bevölkerung anLändern gewiesen. Und da sehe ich, dass die Skepsis wächst, ob die Justiz den neuen Formen der Kriminalität noch Herr werden kann. Ist unser Rechtsstaat also überfordert, zum Beispiel mit dem Internet?
Die Justiz hat Probleme, Schritt zu halten. Das liegt an der technischen Ausstattung, die zum Teil veraltet ist. Und es liegt an Gesetzen, die oft nicht passgenau sind.
Welche zum Beispiel?
Ach, nehmen Sie nur den Klassiker der Vorratsdatenspeicherung. Polizei und Justizbehörden brauchen die dringend. Wir wissen, dass wir damit keine Straftaten verhindern können. Aber diese Daten würden es enorm erleichtern, Straftaten aufzuklären. Und da darf es einfach keine Denkverbote aus ideologischen Gründen geben.
Der Richter- und Staatsanwaltstag in Weimar beschäftigt sich bezeichnenderweise mit dem Schwerpunktthema „Der gläserne Mensch“, also mit Problemen der Digitalisierung und der Internet-Welt.
Ja, das Themenfeld ist für Richter und Staatsanwälte eben eine der größten Herausforderungen.
Wie zuversichtlich sind Sie, dass der massive Personalmangel in der Justiz behoben wird?
Ich glaube, mit den neuen Bedrohungen steigt die Wertschätzung für die Justiz. Man will ja auch, dass Terroristen schnell abgeurteilt werden. Allerdings wurden über einen zu langen Zeitraum Strukturen zusammengestrichen. Das lässt sich nicht von heute auf morgen beheben.
Wie steht es in diesem Zusammenhang mit dem juristischen Nachwuchs?
Die Justiz war immer stolz darauf, nur die besten Juristen zu beschäftigen. Aber was hat sie heute noch zu bieten außer einem sicheren Job? Die Arbeitsbelastung ist sehr hoch, große Wirtschaftskanzleien zahlen viel höhere Einstiegsgehälter. Nicht mehr alle Top-Juristen haben Lust, ihre Zeit in einem muffigen Büro eines uralten Gerichtsgebäudes zu verbringen. Wir müssen attraktiv bleiben. Da gibt es Nachholbedarf. In Bayern hat die Justiz zum Glück noch keine Nachwuchsprobleme, in anderen Ländern wie in NordrheinWestfalen aber sehr wohl.
Interview: Holger Sabinsky-Wolf
FDP-Vize Wolfgang Kubicki hat der sozialliberalen Charme-Offensive von SPD-Chef Martin Schulz eine Absage erteilt. „Der Schulz-Effekt hat ganz offensichtlich seinen Zenit überschritten“, schreibt Kubicki in einem Gastbeitrag für das Handelsblatt. „Denn sonst gäbe es keinen logischen Grund, warum die deutsche Sozialdemokratie nach der in die Hose gegangenen Saarland-Wahl eine Debatte über mögliche Koalitionsoptionen anzettelt.“
Schulz hatte zuvor die Verdienste der 1982 zerbrochenen sozialliberalen SPD-FDP-Koalition auf Bundesebene hervorgehoben. „Die sozialliberale Koalition auf Bundesebene hat Deutschland ganz sicher moderner und demokratischer gemacht“, sagte Schulz den Zeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschland vom Donnerstag mit Blick auf das Bündnis von SPD und FDP in den Jahren 1969 bis 1982. Positiv äußerte er sich auch zumindest zu Aspekten der aktuellen FDP-Politik. „Christian Lindner hat erklärt, die FDP wolle keinen Steuerwahlkampf führen. Das finde ich bemerkenswert“, sagte der SPD-Kanzlerkandidat. „Mit Christian Lindner werde ich mich bestimmt auch mal treffen.“Ähnlich äußerte sich auch SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann. „Herr Lindner bemüht sich, nicht länger am Rockzipfel von Frau Merkel zu hängen und Brücken zu anderen Parteien aufzubauen.
Nach dem CDU-Sieg bei der Saarland-Wahl und einem dort gescheiterten Linksbündnis von SPD und Linkspartei werben führende Sozialdemokraten verstärkt für eine Ampel-Koalition mit FDP und Grünen.