Der Horror von Chan Scheichun
Wer steckt hinter dem Giftgasangriff in Syrien? Experten trauen das Massaker sowohl dem Assad-Regime als auch seinen Feinden zu. Mittendrin gerät US-Präsident Donald Trump unter Druck. Kann er Amerikas Kurs wirklich ändern?
Mohammed Abu Abdu hat als Kameramann schon viele Luftangriffe im syrischen Bürgerkrieg gefilmt – aber den vom Dienstag wird er nie vergessen. Als er die Jets am Himmel über der Stadt Chan Scheichun hört, stürmt er auf das Dach, wie er erzählt. Sein Film zeigt zwei dicke Rauchsäulen. „Es war ein syrisches Flugzeug, ich habe es gesehen“, sagt er. „Ich habe gesehen, wie es im Norden vier Raketen abgefeuert hat.“Was er danach erlebte, beschreibt er mit den Worten: „Der pure Horror.“
Abu Abdu rief sofort einen Verwandten an, der als Rettungshelfer arbeite. Der sei zum bombardierten Gebiet geeilt und habe sich kurz darauf am Telefon gemeldet: „Er sagte: ,Etwas passiert hier, ruf jemanden an, das ist ein Angriff mit Sarin.‘ Ich habe dann Rettungshelfer in Chan Scheichun alarmiert und ihnen gesagt: ,Es könnte ein chemischer Angriff gewesen sein.‘“Mindestens 86 Menschen starben. Weil das Gas schwerer als Luft ist und nach unten fällt, sind besonders viele Kinder unter den Opfern. Mindestens 30 zählen Aktivisten unter den Toten.
Kurz darauf wurden dreißig der Überlebenden von Chan Scheichun als Flüchtlinge in Krankenhäuser der südtürkischen Großstadt Antakya nahe der Grenze gebracht. Für drei der Angriffsopfer kam die Hilfe zu spät: Sie starben. Nach der Autopsie steht laut türkischen Behörden fest: In Syrien ist tatsächlich Giftgas eingesetzt worden. Zuvor hatten bereits die Aussagen syrischer Ärzte sowie die Berichte und Aufnahmen unabhängiger Journalisten vor Ort keinen anderen Schluss zugelassen. Alle Symptome deuten auf das geächtete Nervengas Sarin hin.
Das Regime von Staatschef Baschar al-Assad bestreitet den Einsatz von Chemiewaffen: „Die syrische Armee hat diese Art von Waffen niemals eingesetzt und wird sie niemals einsetzen, nicht gegen unser eigenes Volk und noch nicht einmal gegen die Terroristen, die unser eigenes Volk töten“, sagt Syriens Außenminister Walid al-Muallim. Die EU und die USA gehen dagegen von einem gezielten Giftgasangriff der syrischen Armee aus: „Unserer Ansicht nach gibt es keinen Zweifel daran, dass das syrische Regime unter der Führung von Baschar al-Assad für diesen schrecklichen Angriff verantwortlich ist“, sagt US-Außenminister Rex Tillerson.
Der Bundestagsabgeordnete Jan van Aken arbeitete von 2004 bis 2006 als Biowaffeninspekteur für die Vereinten Nationen. Heute ist er Außenpolitik-Experte der LinkenFraktion. Van Aken hält es für möglich, dass sowohl Assad als auch die Rebellen hinter dem mörderischen Giftgasanschlag stecken. „Die Uno hat in der Vergangenheit verschiedene Chemiewaffen-Angriffe untersucht: Zweimal haben sie eindeutig nachgewiesen, dass ein Chlorgasangriff vom Assad-Regime kam, einmal ein Senfgasangriff vom sogenannten Islamischen Staat“, so van Aken im Deutschlandfunk.
Er gehe davon aus, dass beide Seiten noch über einzelne Chemiewaffen als Raketen oder Granaten verfügen und Motive haben, sie auch einzusetzen. „Das Assad-Regime kann sich so sicher fühlen, dass es jetzt wieder zu solchen Kriegsverbrechen greift“, sagt van Aken. Es könne aber auch sein, dass die Rebellen die USA in den Krieg ziehen wollten, nachdem Präsident Donald Trump jüngst sagte, dass sich seine Regierung eine Zukunft Syriens mit Assad vorstellen könne. Nur die russische Version hält der Waffenexperte für unglaubwürdig: „Wenn eine normale Rakete ein Chemiewaffenlager oder eine Chemiefabrik getroffen hätte, dann hätten wir davon schon längst Bilder gesehen.“
Tatsächlich erhöhte die US-Regierung gestern den Druck auf Assad. Auch militärische Optionen werden nach Berichten mehrerer US-Medien nicht ausgeschlossen. Nach den Worten von Außenminister Rex Tillerson will Washington eine internationale Koalition zur Ablösung Assads formen. „Diese Schritte sind auf den Weg gebracht“, sagte Tillerson am Donnerstag. Es bedürfe einer Anstrengung der internationalen Gemeinschaft. US-Präsident Trump hatte zuvor bereits seinen Ton gegenüber dem Regime in Damaskus deutlich geändert: Der Angriff auch auf Frauen, Kinder und Babys sei entsetzlich und furchtbar, sagte Trump. Dieser „Affront des AssadRegimes gegen die Menschlichkeit kann nicht toleriert werden“. Allerdings äußerte er sich noch nicht, wie eine Antwort der USA aussehen