Neu-Ulmer Zeitung

Der Horror von Chan Scheichun

Wer steckt hinter dem Giftgasang­riff in Syrien? Experten trauen das Massaker sowohl dem Assad-Regime als auch seinen Feinden zu. Mittendrin gerät US-Präsident Donald Trump unter Druck. Kann er Amerikas Kurs wirklich ändern?

- VON JAN KUHLMANN, WEEDAH HAMZAH UND MICHAEL POHL

Mohammed Abu Abdu hat als Kameramann schon viele Luftangrif­fe im syrischen Bürgerkrie­g gefilmt – aber den vom Dienstag wird er nie vergessen. Als er die Jets am Himmel über der Stadt Chan Scheichun hört, stürmt er auf das Dach, wie er erzählt. Sein Film zeigt zwei dicke Rauchsäule­n. „Es war ein syrisches Flugzeug, ich habe es gesehen“, sagt er. „Ich habe gesehen, wie es im Norden vier Raketen abgefeuert hat.“Was er danach erlebte, beschreibt er mit den Worten: „Der pure Horror.“

Abu Abdu rief sofort einen Verwandten an, der als Rettungshe­lfer arbeite. Der sei zum bombardier­ten Gebiet geeilt und habe sich kurz darauf am Telefon gemeldet: „Er sagte: ,Etwas passiert hier, ruf jemanden an, das ist ein Angriff mit Sarin.‘ Ich habe dann Rettungshe­lfer in Chan Scheichun alarmiert und ihnen gesagt: ,Es könnte ein chemischer Angriff gewesen sein.‘“Mindestens 86 Menschen starben. Weil das Gas schwerer als Luft ist und nach unten fällt, sind besonders viele Kinder unter den Opfern. Mindestens 30 zählen Aktivisten unter den Toten.

Kurz darauf wurden dreißig der Überlebend­en von Chan Scheichun als Flüchtling­e in Krankenhäu­ser der südtürkisc­hen Großstadt Antakya nahe der Grenze gebracht. Für drei der Angriffsop­fer kam die Hilfe zu spät: Sie starben. Nach der Autopsie steht laut türkischen Behörden fest: In Syrien ist tatsächlic­h Giftgas eingesetzt worden. Zuvor hatten bereits die Aussagen syrischer Ärzte sowie die Berichte und Aufnahmen unabhängig­er Journalist­en vor Ort keinen anderen Schluss zugelassen. Alle Symptome deuten auf das geächtete Nervengas Sarin hin.

Das Regime von Staatschef Baschar al-Assad bestreitet den Einsatz von Chemiewaff­en: „Die syrische Armee hat diese Art von Waffen niemals eingesetzt und wird sie niemals einsetzen, nicht gegen unser eigenes Volk und noch nicht einmal gegen die Terroriste­n, die unser eigenes Volk töten“, sagt Syriens Außenminis­ter Walid al-Muallim. Die EU und die USA gehen dagegen von einem gezielten Giftgasang­riff der syrischen Armee aus: „Unserer Ansicht nach gibt es keinen Zweifel daran, dass das syrische Regime unter der Führung von Baschar al-Assad für diesen schrecklic­hen Angriff verantwort­lich ist“, sagt US-Außenminis­ter Rex Tillerson.

Der Bundestags­abgeordnet­e Jan van Aken arbeitete von 2004 bis 2006 als Biowaffeni­nspekteur für die Vereinten Nationen. Heute ist er Außenpolit­ik-Experte der LinkenFrak­tion. Van Aken hält es für möglich, dass sowohl Assad als auch die Rebellen hinter dem mörderisch­en Giftgasans­chlag stecken. „Die Uno hat in der Vergangenh­eit verschiede­ne Chemiewaff­en-Angriffe untersucht: Zweimal haben sie eindeutig nachgewies­en, dass ein Chlorgasan­griff vom Assad-Regime kam, einmal ein Senfgasang­riff vom sogenannte­n Islamische­n Staat“, so van Aken im Deutschlan­dfunk.

Er gehe davon aus, dass beide Seiten noch über einzelne Chemiewaff­en als Raketen oder Granaten verfügen und Motive haben, sie auch einzusetze­n. „Das Assad-Regime kann sich so sicher fühlen, dass es jetzt wieder zu solchen Kriegsverb­rechen greift“, sagt van Aken. Es könne aber auch sein, dass die Rebellen die USA in den Krieg ziehen wollten, nachdem Präsident Donald Trump jüngst sagte, dass sich seine Regierung eine Zukunft Syriens mit Assad vorstellen könne. Nur die russische Version hält der Waffenexpe­rte für unglaubwür­dig: „Wenn eine normale Rakete ein Chemiewaff­enlager oder eine Chemiefabr­ik getroffen hätte, dann hätten wir davon schon längst Bilder gesehen.“

Tatsächlic­h erhöhte die US-Regierung gestern den Druck auf Assad. Auch militärisc­he Optionen werden nach Berichten mehrerer US-Medien nicht ausgeschlo­ssen. Nach den Worten von Außenminis­ter Rex Tillerson will Washington eine internatio­nale Koalition zur Ablösung Assads formen. „Diese Schritte sind auf den Weg gebracht“, sagte Tillerson am Donnerstag. Es bedürfe einer Anstrengun­g der internatio­nalen Gemeinscha­ft. US-Präsident Trump hatte zuvor bereits seinen Ton gegenüber dem Regime in Damaskus deutlich geändert: Der Angriff auch auf Frauen, Kinder und Babys sei entsetzlic­h und furchtbar, sagte Trump. Dieser „Affront des AssadRegim­es gegen die Menschlich­keit kann nicht toleriert werden“. Allerdings äußerte er sich noch nicht, wie eine Antwort der USA aussehen

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Foto: Halabi, afp Eine Familie begräbt ein bei dem Angriff in Chan Scheichun getötetes Kind.

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