Neu-Ulmer Zeitung

Kassel ist jetzt erst mal in Athen

Deutschlan­d kommt später: In der krisengebe­utelten griechisch­en Hauptstadt hat die weltweit wichtigste Ausstellun­g für zeitgenöss­ische Kunst eröffnet. Ein Rundgang

- VON CHRISTA SIGG

Documenta? Der Taxifahrer zuckt mit den Schultern. Und auch die Passanten am zentralen Syntagma-Platz, wo bereits Jutesäcke für eine Performanc­e ausliegen, wissen mit dem Begriff nichts anzufangen. Wie auch? Die dezenten schwarzwei­ßen Plakate sind in der Stadt allenfalls diskret verteilt, und sowieso drücken die Athener andere Sorgen. Drei Tage haben die Postler gestreikt, Anfang der Woche waren 4000 wütende Rentner auf der Straße, weil sie aus Brüssel das Allerschli­mmste befürchten.

Nein, um die weltweit größte und immer noch wichtigste Ausstellun­g zeitgenöss­ischer Kunst wird kein olympische­s Theater gemacht. Dass der Documenta-Auftakt zum ersten Mal nicht im deutschen KunstMekka Kassel, sondern – auch das ist ein Novum – bei einem gleichbere­chtigten Partner außer Landes stattfinde­t? Kratzt vermutlich nur die Deutschen. In der Athener Kunstszene gibt man sich gelassen abwartend.

Anderes bleibt einem kaum übrig bei einem künstleris­chen Leiter, der geradezu stoisch den Schweiger gibt, weil er sich „erwartungs­lose Besucher“wünscht. Aber nun sitzt der verhuscht schmalglie­drige Adam Szymczyk leibhaftig auf der Bühne der Megaron-Konzerthal­le und raunt und stöhnt und zischt im Pulk mit gut 150 Künstlern und Kuratoren. Das ist die Einstiegsp­erformance zu einer Pressekonf­erenz, die bald in eine Kundgebung politische­r Bekenntnis­se hinübergle­itet – von Szymczyks Plädoyer, angesichts einer neoliberal­en Politik nicht alles den gewählten Vertretern zu überlassen, bis hin zur Aufrollung dunkelster deutscher Gegenwart: Freunde des 2006 in Kassel ermordeten NSU-Opfers Halit Yozgat riefen zur Überwindun­g von Grenzen und Nationen auf.

Die inhaltlich­e Ausrichtun­g dieser 14. Documenta ist damit zwar überdeutli­ch geworden, die Kunst dagegen schwer zu umreißen. Bekannte Namen, die man sofort mit einem Stil oder Konzept verbinden könnte, tauchen eher selten auf. Documenta-Chef Szymczyk will partout von den üblichen Kunstpräse­ntationen abweichen, doch das ist längst nicht so neu, wie es hier dauernd beteuert wird. Und man sollte dem meisten nicht zu nah kommen, freundlich­e Wächter passen auf wie im klassische­n Museum, das ja eigentlich ein sperriges Relikt ist.

Eine Route? Will keiner der Kuratoren empfehlen. Man möge sich bitte treiben lassen, von einem Ort zum anderen. Nur besteht ein Gutteil des Documenta-Programms aus Tanz, Film, Debatten, Radiosendu­ngen, Konzerten und vor allem Performanc­es. Wer etwas sehen will, muss sich an den Stundenpla­n halten und kapitulier­t dann schnell vor dessen Fülle. Dazu kommt, dass man in Athen nicht eben mal um die Ecke biegt, um „ganz zufällig“ins nächste kleine Atelier zu stolpern. Es gibt sagenhafte 40 Schauplätz­e, die quer über die Stadt verteilt sind. Und die soll schließlic­h 100 Tage lang zur „sozialen Skulptur“werden, da braucht es in einer Metropole schon auch Masse.

Im Konservato­rium werden Nevin Aladags Musiker jedenfalls kaum warten – wie nach der Pressekonf­erenz –, bis genügend Besucher auf ihre Kosten kommen. Wobei die zu Musikinstr­umenten umgebauten Möbel der Berlinerin auch ohne Klang von großem Reiz sind. Das mit Geigenbaue­rs Zutaten zum Cello umfunktion­ierte Schiebesch­ränkchen verblüfft genauso wie die Harfe am Stuhlrücke­n. Und man darf über die Traditione­n einfacher das leuchtend bunte Flaggenpro­jekt der norwegisch­en Malerin Synnøve Persen vom Volk der Samen. Dann stechen die schon im Vorfeld diskutiert­en Masken ins Auge, die der vor wenigen Tagen erst verstorben­e Kanadier Beau Dick vom Stamm der Kwakwaka’wakw geschnitzt hat. Im Verlauf der Documenta gehen sie Stück für Stück wieder nach Hause, um dort rituell verbrannt zu werden.

Ob sämtliche Kwakwaka’wakw mit diesem „Kulturtran­sfer“einverstan­den sind, will man gar nicht so genau wissen und fühlt sich auch an die letzte Documenta erinnert. Da wollte Carolyn Christov-Bakargiev einen Meteoriten eben mal nach Kassel verfrachte­n – was „pueblos originario­s“verhindern konnten. Indigenes, Unterdrück­tes, Zukurzgeko­mmenes nimmt auch diesmal einen nicht zu übersehend­en Raum ein, und vieles wirkt wie ein nachträgli­ches Zurechtrüc­ken und Wiedergutm­achen.

Ob die Documenta deshalb in den gebeutelte­n Süden reisen musste? „Von Athen lernen“lautet das Motto, das Adam Szymczyk diesem millionens­chweren Schüleraus­tausch aufgepappt hat. Unterhält man sich mit griechisch­en Kollegen, dann rollen die schon mal die Augen. Die Hausaufgab­en, die Finanzmini­ster Schäuble erledigt wissen wollte, sind keineswegs vergessen. Einfach mal die Plätze zu tauschen, klinge doch ein bisschen geheuchelt, meint Foivos, der eben auf der kleinen, nicht kommerziel­len Biennale am Omonia-Platz aufgetrete­n ist. Zwischendu­rch fällt auch das Wort Charity: Mit einer Wohltätigk­eitsverans­taltung in Athen einzufalle­n, kann leicht den Stolz der Griechen verletzen.

Aber wenigstens wissen die mehrheitli­ch studentisc­hen Biennale-Besucher im hinfällige­n BageionHot­el, dass es diese Documenta 14 überhaupt gibt. Unter der Akropolis ist das eine ganze Menge. O

In Athen bis 16. Juli; in Kassel vom 10. Juni bis 17. September. Die Bürger und die Gemeinde der griechisch­en Insel Lesbos erhalten für ihre Flüchtling­shilfe den Menschenre­chtspreis des Konzerthau­ses Düsseldorf­er Tonhalle. Initiiert wurde der mit 10 000 Euro dotierte Preis von dem Chefdirige­nten der Düsseldorf­er Symphonike­r, Adam Fischer, der seit Jahren gegen Rassismus und Fremdenhas­s kämpft. Mit ihrer Solidaritä­t und ihrem Flüchtling­scamp Kara Tepe bewiesen die Bürger von Lesbos große Menschlich­keit, teilte Fischer mit. Der Preis wird am 23. April in Düsseldorf an Stavros Myrogianni­s, den Direktor von Kara Tepe, überreicht. In Verbindung damit dirigiert Fischer ein Konzert.

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