Neu-Ulmer Zeitung

Das sind die Süchte der Deutschen

Fast zwei Millionen Bundesbürg­er sind tablettena­bhängig. Der Konsum von Medikament­en birgt Risiken und erhöht womöglich das Risiko für Alzheimer. Doch die größte Sucht der Menschen ist noch viel weiter verbreitet

- VON SEBASTIAN MAYR

In Deutschlan­d sind mehr Menschen von Medikament­en abhängig als vom Alkohol. Das besagt das neue „Jahrbuch Sucht“der Deutschen Hauptstell­e für Suchtfrage­n, das am Dienstag in Berlin vorgestell­t wurde. Demnach sind bis zu 1,9 Millionen Menschen süchtig nach Arzneimitt­eln – knapp 1,8 Millionen sind es beim Alkohol.

Am stärksten betroffen von der medikament­en-Abhängigke­it sind Ältere und Frauen. Die Gründe sind nach Angaben des Gesundheit­sexperten Gerd Glaeske vielfältig: Vor allem Frauen seien mit zunehmende­m Alter von Depression­en betroffen. Auch Einsamkeit und finanziell­e Schwierigk­eiten tragen Glaeske zufolge dazu bei, dass diese häufiger Medikament­e einnehmen. Die Folgen sind gefährlich. Konzentrat­ion und kognitive Fähigkeite­n werden gedämpft, dadurch steigt beispielsw­eise die Gefahr zu stürzen. Neue Studien zeigen außerdem, dass das Risiko, an Demenz zu erkranken, womöglich durch Arzneimitt­el steigt. Das Risiko von Missbrauch und Abhängigke­it geht von immerhin vier bis fünf Prozent aller Medikament­e aus, die häufig verschrie- ben werden. Gefährlich sind vor allem Schlaf- und Beruhigung­smittel wie Valium. Glaeske kritisiert­e die fehlende Transparen­z und nahm insbesonde­re Ärzte in die Pflicht: Die Arzneimitt­el seien zwar notwendig, aber sie müssten kritisch so eingesetzt werden, dass es nicht zu einer Abhängigke­it kommt. Inzwischen werde mehr als die Hälfte solcher Beruhigung­smittel mit Privatreze­pten verordnet. Dadurch können die Verschreib­ungen nicht systematis­ch ausgewerte­t werden. Auch von Schmerzmit­teln, die zu rund 70 Prozent rezeptfrei erhältlich sind, geht ein Sucht- und Missbrauch­srisiko aus. Etwa 150 Millionen Packungen davon werden jährlich in Deutschlan­d verkauft. Die genaue Zahl der Medikament­ensüchtige­n ist unbekannt, Glaeske und seine Kollegen müssen schätzen. Viele Erhebungen zum Thema Sucht hätten Lücken, kritisiert der Pharmakolo­ge. Denn die vom Gesundheit­sministeri­um geförderte­n Studien zum Arzneimitt­elkonsum würden nur Menschen erfassen, die höchstens 64 Jahre alt sind.

Das Jahrbuch Sucht fasst auch weitere Daten und Trends zusammen. Eine Veränderun­g gibt es bei Deutschlan­ds beliebtest­em Suchtmitte­l: Die Zahl der gerauchten Zigaretten ist im Jahr 2016 im Vergleich zum Vorjahr um knapp acht Prozent gesunken – auf 75 Milliarden Zigaretten. Stark gestiegen ist hingegen der Konsum von Pfeifentab­ak – von 1732 Tonnen 2015 auf 2521 Tonnen im vergangene­n Jahr. Das war ein Plus von mehr als 45 Prozent.

Martina Pötschke-Langer vom Aktionsbün­dnis Nichtrauch­en kritisiert­e die aus ihrer Sicht laxe Gesetzgebu­ng. Die Preise seien vergleichs­und weise niedrig, Werbung sei in größerem Ausmaß erlaubt als anderswo. In einer EU-weiten Rangliste, die die Gesetzgebu­ng zur Rauchpräve­ntion misst, landete Deutschlan­d kürzlich auf dem vorletzten Platz. Nur Österreich schnitt schlechter ab.

Offenbar greifen inzwischen aber immer weniger Jüngere zum Glimmstäng­el. Kaum Veränderun­gen gebe es hingegen bei Rauchern, die älter als 35 Jahre sind. Daran ändern auch die E-Zigaretten nichts, die Pötschke-Langer kritisch sieht. Diese bewegten kaum einen Raucher zum Aufhören. Die Sucht sei zu stark. E-Zigaretten würden nicht anstatt herkömmlic­her Zigaretten konsumiert, sondern oftmals zusätzlich. Insgesamt erkennt die Deutsche Hauptstell­e für Suchtfrage­n ein konstant hohes Niveau beim Konsum legaler und illegaler Drogen. Im Jahr 2015 trank der Durchschni­ttsbürger mit immerhin 9,6 Liter reinem Alkohol so viel wie im Jahr davor. Zugenommen hat die Zahl derer, die wegen der weiterhin häufigsten illegalen Droge Cannabis in Konflikt mit dem Gesetz geraten sind. Das liege aber auch daran, dass die Polizei dort inzwischen intensiver ermittelt. Der im Dönermesse­r-Prozess verurteilt­e 22-Jährige hat gegen das Urteil Revision eingelegt. Das Urteil muss voraussich­tlich vom Bundesgeri­chtshof geprüft werden. Das Tübinger Gericht hatte den Mann wegen Mordes und versuchten Mordes zu einer lebenslang­en Freiheitss­trafe verurteilt und die besondere Schwere der Schuld festgestel­lt. Die Richter sahen es als erwiesen an, dass er am 24. Juli 2016 in Reutlingen seine Freundin mit einem Messer aus einem Dönerimbis­s getötet hat. Mit rotem Spray hat eine 86 Jahre alte Aktivistin in Bern die Absperrwan­d vor der Schweizer Nationalba­nk neu beschrifte­t. „Geld für Waffen tötet“, schrieb die Friedensak­tivistin Louise Schneider. Die Polizei ließ nicht lange auf sich warten und nahm die Frau fest. Die Beamten halfen ihr freundlich über die hohe Einstiegsk­ante in den Streifenwa­gen. Schneider ist keine Unbekannte: Sie ist Mitglied der Organisati­on „Schweiz ohne Armee“und hat zeitlebens gegen jede Form von Gewalt gekämpft.

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Foto: Matthias Hiekel, dpa Medikament­ensucht ist weiterhin ein großes Thema in Deutschlan­d. Bis zu 1,9 Mil lionen Menschen gelten als abhängig.

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