Neu-Ulmer Zeitung

Die Revolution­äre verlieren ihre Kinder

Die Jugend begehrt gegen das sozialisti­sche Regime auf. Sogar Töchter und Söhne aus prominente­n Familien des Regierungs­lagers demonstrie­ren mit der Opposition. „Papa, du kannst die Ungerechti­gkeit stoppen“

- VON SANDRA WEISS

Keine zwei Minuten dauert das Video, das der Venezolane­r Yibram Saab auf Youtube stellte, aber es birgt Sprengstof­f. „Ich verurteile die Gewalt der Sicherheit­skräfte, deren Opfer ich wurde. Ich war heute auf der Straße, ganz genauso wie Juan Pablo Pernalete, an dessen Stelle ich hätte sein können.“Der Mitdemonst­rant war von einer direkt auf ihn abgefeuert­en Tränengask­artusche getötet worden. Außergewöh­nlich an den Aussagen ist die Person: Saab ist Sohn des Ombudsmann­s von Venezuela, Tarek William Saab, einst enger Vertrauter des verstorben­en Präsidente­n Hugo Chávez und linientreu­er Vertreter der sozialisti­sch-bolivarisc­hen Revolution. „Papa, du kannst die Ungerechti­gkeit stoppen. Ich bitte dich als Sohn und Venezolane­r darum. Ich weiss, dass es nicht einfach ist, aber es ist das Richtige“, so der 21-jährige Jurastuden­t mit vor Aufregung roten Wangen.

Harte Worte auch von Manuela Bolívar: „Das einzige, was diese Regierung hervorgebr­acht hat, ist Korruption. Lateinamer­ika kommt voran, und wir Venezolane­r diskutiere­n, wo wir Windeln und Kopfschmer­ztabletten bekommen.“Auch sie trägt einen berühmten Nachnamen. Ihr Vater Didalco war Gouverneur des Bundesstaa­tes Aragua und bekleidet noch immer hohe Ämter im Regime. Sie wuchs „zwischen Meetings und Militärs“auf, wie sie sich erinnert. Als Chávez 2005 ein neues Bildungsge­setz vorlegte, „bin ich in die opposition­elle Studenteng­ruppe gegangen“, erzählt die 33-jährige Psychologi­n unserer Zeitung in einem Café in Cara- cas. Ihren Eltern verschwieg sie ihre politische­n Aktivitäte­n, bis ein Bodyguard sie bei einem Protest entdeckte. „Als ich meinem Vater meine Gründe darlegte und über die Freiheit referierte, begann er zu weinen“, erzählt sie. Heute ist sie Mitglied der Partei Voluntad Popular des inhaftiert­en Opposition­sführers Leopoldo López. Ihren Vater sieht sie nur noch selten. „Leben hier ist die Hölle, und mit dieser Regierung gibt es keine Chance auf Normalität, auf einen Rechtsstaa­t oder Chancengle­ichheit“, sagt sie.

Es sind vor allem junge Leute, die sich um ihre Zukunft betrogen füh- und protestier­en. Viele, wie der durch unbekannte Schützen ermordete 17-jährige Carlos Moreno, haben nie eine andere Partei an der Regierung kennengele­rnt als die sozialisti­sche. Miguel Ojeda war früher glühender Regierungs­anhänger. Heute verkauft der arbeitslos­e 25-Jährige im Armenviert­el Petare Windeln, Maismehl und Shampoo und lässt kein gutes Haar an Machthaber Nicolás Maduro.

Hans Würich, deutscher Abstammung und Student der Kommunikat­ionswissen­schaften an der Universida­d Metropolit­ana, sagt: „Ich sterbe lieber als mich zu ducken.“ Berühmt wurde der 27-Jährige, weil er nackt mit einer Bibel in der Hand auf einen Panzerwage­n kletterte und von Polizisten mit Gummigesch­ossen traktiert wurde, bis sein Körper übersät war mit Blutergüss­en.

An den Universitä­ten – auch den eher progressiv­en, staatliche­n – ist es dem Sozialismu­s des 21. Jahrhunder­ts nie gelungen, die Macht zu übernehmen. Dort formiert sich seit 2005 Widerstand, erst gegen Budgetkürz­ungen und Bildungsre­form, dann gegen die Schließung eines kritischen TV-Kanals und gegen die Verfassung­sänderung zur unbegrenzt­en Wiederwahl. Die Studenlen ten brachten frischen Wind in die bürgerlich­e Opposition. Sie erprobten neue Formen des Protests wie Sit-ins und wagten sich in die Armenviert­el – eine Hochburg der Sozialiste­n –, um mit den Bewohnern zu debattiere­n. Viele aus dieser Generation führen dieser Tage die Demonstrat­ionen an, darunter Freddy Guevara und David Smolansky.

Die Studenten sehen sich an der Seite der Armen. Selbst mit einem Diplom in der Hand ist es ihnen heute in Venezuela nahezu unmöglich, einen Job zu finden – außer in der Staatsverw­altung. 8000 Industrieb­etriebe und 500000 Geschäfte und Familienun­ternehmen mussten nach Angaben des Industriev­erbandes schließen; alleine in den vergangene­n drei Jahren gingen eine Million Arbeitsplä­tze verloren.

Schon 2014 waren es die Studenten, die den ersten Aufstand gegen Maduro probten. Nachdem ihre Demonstrat­ionen brutal niedergesc­hlagen wurden, wehrten sie sich wie jetzt auch mit Molotow-Cocktails und Steinen hinter brennenden Barrikaden. Doch der Preis ist hoch: Bislang starben 26 Menschen bei den Protesten, 2014 waren es 43, über 5000 wurden festgenomm­en.

„Student zu sein ist in Venezuela ein Straftatbe­stand. Ich wurde bedroht, verprügelt und sogar angeschoss­en“, sagt Studentenf­ührer Jorge Arellano von der Universida­d de los Andes im Bundesstaa­t Mérida. Denn das Dekret 8610 erlaubt den Sicherheit­skräften den Einsatz von Schusswaff­en gegen Demonstran­ten. Auch Ex-Revolution­är Ojeda ist wütend: „Die Kinder der roten Elite, so wie die Tochter von Chávez, studieren im Ausland. Wir sind die Gelackmeie­rten.“

Papst Franziskus ist am Freitag zu einem zweitägige­n Besuch in Ägypten eingetroff­en. Er rief alle Religionen zum gemeinsame­n Kampf gegen Gewalt und Terror auf. „Gemeinsam wiederhole­n wir von hier aus (...) ein deutliches und eindeutige­s ,Nein‘ zu jeglicher Form von Gewalt, Rache und Hass, die im Namen der Religion oder im Namen Gottes begangen werden“, sagte das Katholiken-Oberhaupt bei einer Friedensko­nferenz in dem islamische­n Lehrinstit­ut Al-Azhar in Kairo. Dies sei eine „Reise der Einheit und der Brüderlich­keit“von Christen und Muslimen.

Nach seiner Ankunft in Kairo wurde Franziskus zum Präsidente­npalast gefahren, wo er den ägyptische­n Staatschef Abdel Fattah al-Sisi traf. Danach wollte er die Kirche St. Peter und Paul besuchen. Dort waren im Dezember bei einem Selbstmord­anschlag 29 Menschen getötet worden. Die christlich­e Minderheit ist in Ägypten immer wieder Opfer von Gewalt. Zuletzt wurden vor gut zwei Wochen bei Anschlägen auf zwei Kirchen insgesamt 45 Menschen getötet.

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Foto: Ronaldo Schemidt, afp Gezeichnet vom Protest: Auch Töchter und Söhne prominente­r Familien des sozialisti­schen Regimes in Venezuela haben sich der Opposition angeschlos­sen. Hier wird eine Autobahn in Caracas blockiert.
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Foto: afp Präsident al Sisi (rechts) begrüßt den Papst in Kairo.

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