Neu-Ulmer Zeitung

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (8)

- Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben...

UDeutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

nd was für Launen“, erwiderte Harry mit einem boshaften Funkeln in den Augen, „was für unartige Launen müssen das sein. Ich wette, du hast in deinem Rückspiege­l schon einiges zu sehen bekommen.“

„Allerdings, Harry, du sagst es. Masturbati­on, Unzucht, Rauschzust­ände aller Art. Kotze und Sperma, Scheiße und Pisse, Blut und Tränen. Im Lauf der Zeit hat sich jede menschlich­e Körperflüs­sigkeit auf meine Rückbank ergossen.“„Und wer wischt das auf?“„Ich. Das gehört zum Job.“„Lass es dir gesagt sein, junger Mann“, hauchte Harry, den Handrücken divenhaft an die Stirn legend, als wollte er in Ohnmacht sinken, „wenn du für mich arbeitest, wirst du feststelle­n, dass Bücher nicht bluten. Und dass sie ganz gewiss nicht defäzieren.“

„Es gibt auch schöne Momente“, ergänzte Tom, der Harry nicht das letzte Wort lassen wollte. „Unvergessl­ich charmante Augenblick­e,

winzige Glanzpunkt­e, unerwartet­e Wunder. Morgens um halb vier auf dem Times Square, kein anderes Auto in Sicht, und du plötzlich ganz allein im Zentrum der Welt, und aus allen Schleusen des Himmels regnet Neon auf dich herab. Oder wenn du kurz vor Sonnenaufg­ang mit über hundert Sachen den Belt Parkway runterfähr­st und den Geruch des Ozeans in die Nase bekommst, der durchs offene Fenster zu dir hereinströ­mt. Oder wenn du über die Brooklyn Bridge fährst, und genau vor dir erscheint der Vollmond im Brückenbog­en, und du siehst nur noch diese strahlend gelbe, erschrecke­nd große Scheibe, und du vergisst, dass du hier unten auf der Erde lebst, und stellst dir vor, du fliegst, das Taxi hat Flügel, und du schwebst wahrhaftig durch die Luft. Kein Buch kann so etwas wiedergebe­n. Das ist für mich wahre Transzende­nz. Den Körper hinter sich lassen und in den ganzen Reichtum der Welt eintauchen.“

„Dafür muss man nicht Taxi fah- ren, Junge. Das geht mit jedem anderen Auto auch.“

„Nein, das ist was anderes. In einem normalen Auto hat man nicht das Gefühl, sich abzuracker­n, und das ist ein wesentlich­es Element dieser Erfahrung. Die Erschöpfun­g, die Langeweile, die geisttöten­de Eintönigke­it. Und plötzlich, wie aus dem Nichts heraus, überkommt dich dieses Gefühl von Freiheit, und für einige Sekunden bist du vollkommen selig. Aber man muss dafür bezahlen. Ohne Plackerei keine Seligkeit.“

Tom wusste selbst nicht, warum er Harry solchen Widerstand leistete. Er glaubte nicht ein Zehntel von dem, was er ihm erzählte, aber sobald sie auf das Thema Jobwechsel zu sprechen kamen, wurde er störrisch und fing mit seinen abstrusen Gegenargum­enten und Selbstrech­tfertigung­en an. Natürlich war ihm klar, dass es ihm bei Harry besser gehen würde, aber die Vorstellun­g, als Gehilfe eines Buchhändle­rs zu arbeiten, war auch nicht gerade umwerfend, kaum das, was ihm vorgeschwe­bt hatte, als er davon träumte, sein Leben einer gründliche­n Revision zu unterziehe­n. Der Schritt schien ihm irgendwie zu klein, zu kümmerlich, als dass er sich damit begnügen wollte, nachdem er so viel verloren hatte. Und so ging das Werben weiter, und je mehr ihm sein Job zuwider war, desto hartnäckig­er verteidigt­e er seine Trägheit; und je träger er wurde, desto mehr war er sich selbst zuwider. Der Schock, unter so trostlosen Umständen dreißig zu werden, entfaltete einige Wirkung, aber nicht genug, um ihn zum Handeln zu bewegen, und obwohl seine Mahlzeit am Tresen des Metropolit­an Diner mit dem Entschluss geendet hatte, sich spätestens innerhalb eines Monats einen neuen Job zu besorgen, arbeitete er, als der Monat abgelaufen war, immer noch für die 3-D-Taxigesell­schaft. Tom hatte sich immer gefragt, wofür diese drei D stehen mochten, und jetzt glaubte er es zu wissen. Dunkelheit, Destruktio­n und Dämmerzust­and. Mit einem Wort: Tod. Er sagte Harry, er wolle sich das Angebot durch den Kopf gehen lassen, und dann tat er nichts mehr, wie immer. Hätte ihm nicht in einer eisigen Januarnach­t irgendein stotternde­r, zugedröhnt­er Cracksücht­iger eine Kanone in den Hals gerammt - wer weiß, wie lange dieser unentschie­dene Zustand noch angehalten hätte? Aber Tom hatte endlich kapiert, und als er am nächsten Morgen in Harrys Laden trat und ihm sagte, er habe sich entschloss­en, den Job anzunehmen, waren seine Tage als Taxifahrer mit einem Schlag vorbei.

„Ich bin dreißig Jahre alt“, sagte er seinem neuen Boss, „und habe vierzig Pfund Übergewich­t. Ich habe seit über einem Jahr nicht mehr mit einer Frau geschlafen, und in den letzten zwölf Tagen habe ich jeden Morgen von Staus in zwölf verschiede­nen Teilen der Stadt geträumt. Ich könnte mich irren, aber ich meine, es ist Zeit für einen Wechsel.“

NEine Mauer stürzt ein

un arbeitete Tom also für Harry Brightman, ohne recht zu merken, dass es diesen Harry Brightman gar nicht gab. Der Name war bloß ein Name, und das Leben, das dazu gehörte, war nie gelebt worden. Das hielt Harry nicht davon ab, ihm Geschichte­n aus seiner Vergangenh­eit zu erzählen, aber da es sich bei dieser Vergangenh­eit um eine Erfindung handelte, war nahezu alles, was Tom über Harry zu wissen glaubte, falsch. Nichts da mit Kindheit in San Francisco, die Mutter eine Dame der feinen Gesellscha­ft, der Vater Arzt. Nichts da mit Exeter und Brown. Nichts da mit Enterbung und dem Flug nach Greenwich Village im Sommer 1954. Nichts da mit Vagabunden­jahren in Europa. Harry war aus Buffalo, New York, und er hatte niemals als Maler in Rom gelebt, hatte niemals in London ein Theater geleitet und war niemals Berater eines Auktionsha­uses in Paris gewesen. Das einzige Geld in der Familie kam aus der Lohntüte, die sein Vater wöchentlic­h von seinem Job als Briefsorti­erer in der Hauptpost nach Hause brachte, und als Harry mit achtzehn Buffalo verließ, ging er nicht aufs College, sondern zur Marine. Vier Jahre später entlassen, begann er - an der De Paul University in Chicago - tatsächlic­h mit einigem Erfolg ein Studium, fühlte sich aber längst zu alt zum Studieren und hörte nach drei Semestern wieder auf. Er blieb jedoch vorerst in Chicago, und die Geschichte, wie er vor neun Jahren nach New York gekommen war (nachdem er durch einen Börsenschw­indel in London sein ganzes Geld verloren hatte), war wieder einmal von vorn bis hinten erfunden. Es stimmte allerdings, dass er seit neun Jahren in New York lebte, und es stimmte auch, dass er vom Buchhandel keinen Schimmer gehabt hatte, als er in die Stadt gekommen war. Aber damals hatte er nicht Harry Brightman geheißen, sondern Harry Dunkel. Und er war nicht über London nach New York gekommen, sondern vom Chicagoer O’Hare Airport. Und seine Postanschr­ift war zweieinhal­b Jahre lang das Bundesgefä­ngnis in Joliet, Illinois, gewesen.

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