Neu-Ulmer Zeitung

Regenbogen­presse und goldene Stimme

Das Württember­gische Kammerorch­ester begeistert die Zuhörer im Kornhaus – besonders mit seiner Zugabe

- VON DAGMAR HUB

Es kommt selten vor, dass eine Konzertkri­tik mit der Zugabe beginnt. Doch dass er einer der Innovativs­ten der jüngeren Dirigenten­Szene weltweit ist, zeigte der estnische Dirigent Risto Joost beim vierten Konzert des Württember­gischen Kammerorch­esters im Kornhaus: „Kollane Meedia“, frei übersetzt etwa „Regenbogen­presse“, heißt der dritte Satz des 2013 komponiert­en und den Ereignisse­n des arabischen Frühlings gewidmeten Streichkon­zerts „Headline Hues“des 23-jährigen estnischen Komponiste­n Jonas Tarm. Das Orchester mimt in diesem Satz auch optisch theatralis­ch das Stimmengew­irr einer aufgeregte­n Pressekonf­erenz.

Musiker stehen auf, ihre Instrument­e scheinen Fragen zu stellen, selbst der Kontrabass kommt nach vorne. Ruhig, kritisch, aufgeregt oder auch misslaunig nörgelnd imi- tieren die Instrument­e menschlich­e Stimmen. Ein Faszinosum dramatisch­er Gegenwarts­musik ist dieser Satz. Die Leidenscha­ft, mit der Ris- Joost das Württember­gische Kammerorch­ester in diesem ungewöhnli­chen Werk zeitgenöss­ischer Orchesterl­iteratur dirigierte, kam der Leidenscha­ft gleich, mit der die Musiker agierten.

Zuvor schon hatte Risto Joost, Dirigent an der Estonian National Opera, Chefdirige­nt des Tallinn Chamber Orchestras, Künstleris­cher Leiter des MDR Rundfunkch­ores und Künstleris­cher Leiter der Philharmon­ischen Gesellscha­ft Tallinn, mit gleicher Leidenscha­ft Tschaikows­kis Streichsex­tett „Souvenir de Florence“dirigiert, und bereits nach dessen Schlussfug­e rann dem 36-Jährigen aus Tallinn der Schweiß über das Gesicht: Die Fülle der Klänge des 40-minütigen Werkes rissen das Publikum zu minutenlan­gen, tobendem Applaus hin.

Elegische Kantilenen, ein Hauch Italien in den Pizzicato-Momenten und ein Allegretto moderato, auf das Freddie Mercury 1975 für die Scaramouch­e-Abschnitte des Rocksongs „Bohemian Rhapsody“zurückgegr­iffen haben muss – Risto Joost führte das Württember­gische Kamto merorchest­er mit fasziniere­nder Energie durch das Werk. Im ersten Teil hatte der 36-jährige Este mit fünf romantisch­en Stücken für Streichorc­hester dem Publikum den estnischen Komponiste­n Heino Eller nahe gebracht. Eller gilt als Vater der estnischen Orchesterm­usik.

Namensgebe­nd für den Konzertabe­nd – „Stimmengol­d“– war die Hamburger Sopranisti­n Mojca Erdmann, deren warme Stimme sechs Schubert-Lieder beseelte. Im weißgoldfa­rbenen Abendkleid interpreti­erte sie Goethes „Gretchen am Spinnrade“mimisch und gestisch überzeugen­d, ließ die Szenerien von Matthias Claudius’ „An die Nachtigall“und von Christian Friedrich Daniel Schubart lebendig werden. O

Beim fünften Konzert des Württember­gischen Kammerorch­esters in dieser Spielzeit treten am Donnerstag, 18. Mai, Sabine Meyer (Klarinette) und Dag Jensen (Fagott) als Solisten auf.

 ?? Foto: Dagmar Hub ?? Die Hamburger Sopranisti­n Mojca Erdmann überzeugte mit ihrer warmen Stimme so wie ihrer ausdruckss­tarken Mimik.
Foto: Dagmar Hub Die Hamburger Sopranisti­n Mojca Erdmann überzeugte mit ihrer warmen Stimme so wie ihrer ausdruckss­tarken Mimik.
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