Die Gewalt im Blick
Zugbegleiter sind nicht zu beneiden. Weil immer mehr Passagiere handgreiflich werden. Und Schwarzfahrer schon mal zuschlagen, wenn man sie erwischt. Wie eine Schaffnerin mit diesem Schock fertig wurde – und die Bahn ihre Mitarbeiter schützen will
Als Anja Müller* in die Regionalbahn von Cottbus nach Frankfurt an der Oder steigt, ahnt sie noch nicht, dass sie dieser Tag lange Zeit verfolgen wird. Sie tut, was sie immer tut, spricht Passagiere an, kontrollierte Zugtickets. Dann trifft sie auf einen Mann, der keinen Fahrschein hat. „Er war stark alkoholisiert und wollte die fälligen 40 Euro für das Schwarzfahren nicht bezahlen“, erinnert sie sich. Also fordert sie ihn auf, den Zug am nächsten Haltepunkt zu verlassen. Er reagiert nicht, ihr Ton wird schärfer. Doch der Mann weigert sich.
Dann, am nächsten Bahnhof, fängt er plötzlich an, auf die Zugbegleiterin einzutreten. Andere Fahrgäste und der Lokführer eilen herbei: „Gerade als mir der Betrunkene stände, wenn ich an der Stelle vorbeifuhr, an der der Mann randalierte. Die erfahrene Zugbegleiterin begann jedes Mal zu zittern, weil sie nicht wusste, ob unter den Fahrgästen nicht wieder einer ist, der vor rüder Gewalt nicht zurückschreckt. Und ein Übergriff, wie ihn Anja Müller erlebt hat, ist alles andere als ein Einzelfall.
Immer häufiger sind Mitarbeiter der Deutschen Bahn körperlicher Gewalt ausgesetzt. Über 2300 derartige Übergriffe registrierte das Unternehmen im vergangenen Jahr bundesweit, was einen Anstieg von 27 Prozent bedeutet. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um Körperverletzungsdelikte. Mitarbeiter wurden von Fahrgästen geschlagen, getreten, mit dem Messer bedroht oder gar mit Kaffeebechern und glühenden Zigaretten beworfen. „Wir stellen fest, dass die Autorität unserer Uniform tragenden Mitarbeiter, also Schaffner oder Sicherheitspersonal, immer weniger anerkannt wird“, sagt ein Bahn-Sprecher. Am häufigsten werden die Mitarbeiter attackiert, wenn sie Passagiere beim Schwarzfahren erwischen.
Doch woran liegt das? KarlFriedrich Voss, Vorsitzender des Bundesverbandes der Verkehrspsychologen, hält den Respektsverlust vor Autoritäten für einen allgemeinen gesellschaftlichen Trend: „Die- ses Phänomen sollte man nicht isoliert betrachten – auch bei Polizei, Sanitätern oder im Bildungsbereich stellen wir das fest.“Der Wissenschaftler schränkt aber zugleich ein: „Wer eine Autorität sein möchte, muss das auch verkörpern.“Dazu gehört auch, dass man klar anspricht, wenn sich jemand falsch verhält. Dadurch, so Voss, könnten manche Übergriffe verhindert werden.
Das weit größere Problem sind seiner Meinung nach ohnehin Betrunkene im Zug: „Ich fahre fast jeden Tag mit einer privaten Regionalbahn, die den Alkoholkonsum verboten hat, und dort ist mir noch nie ein gewalttätiger Fahrgast begegnet“, sagt der Experte.
Wie stark das Aggressionspotenzial mit dem Promillewert zusammenhängt, belegen auch die kürzlich veröffentlichten Zahlen der Deutschen Bahn. Bei den meisten Übergriffen auf Mitarbeiter ist Alkohol im Spiel. Besonders häufig werden Passagiere während des Münchener Oktoberfests handgreiflich. Fast 30 Prozent aller angezeigten Übergriffe passierten während der Wiesn. „Gibt es in den Zügen dann nur den Schaffner und kein zusätzliches Sicherheitspersonal, brauchen die Randalierer wenig Widerstand fürchten“, meint Voss.
Der Regionalexpress von Oberstdorf nach München macht gerade eine Viertelstunde Halt an Gleis zwei. Anja Müller unterhält sich mit dem Zugbegleiter. „Auch unter uns Mitarbeitern sind diese Vorfälle immer wieder Thema“, sagt sie und kaut ihren Kaugummi. Von Kollegen habe sie gehört, dass besonders der Abschnitt zwischen Ulm und Memmingen ein Gewaltschwerpunkt sei. „Trotzdem ist das hier noch heile Welt“, schiebt sie eilig hinterher. Auf einigen Strecken in ihrer Heimat Brandenburg möchte sie heute keine Fahrscheine mehr kontrollieren.
Besonders groß ist das Problem in Schwaben aber nicht, wie der BahnSprecher betont. Brennpunkte sind andere Regionen im Freistaat. „Speziell im Raum München, Nürnberg und Würzburg kommt es verstärkt zu Übergriffen auf unser Zug- und Sicherheitspersonal“, sagt der Sprecher. Das habe vor allem mit den dort stattfindenden Volksfesten und Fußballspielen zu tun.
Und was unternimmt der Konzern dagegen? „Wir werden deutschlandweit 500 neue Sicherheitskräfte einstellen“, erklärt der Bahn-Sprecher. Allein im Freistaat sollen dieses Jahr 40 neue Auszubildende im Sicherheitsdienst hinzukommen. Darüber hinaus sollen künftig mehr Hundestreifen auf den Bahnhöfen patrouillieren. 85 Millionen Euro stecken das Verkehrsunternehmen und der Bund zudem in den weiteren Ausbau der Videoüberwachung. In Münchner S-Bahnen filmen bereits an die 4000 Kameras. Möglicherweise werden bald auch bestimmte Regionalzüge damit ausgestattet.
Vielleicht hätte sich Anja Müller sicherer gefühlt, damals in der Regionalbahn von Cottbus nach Frankfurt an der Oder, wenn es auch dort die Überwachungstechnik gegeben hätte. Oder, wenn ein zweiter Schaffner an Bord gewesen wäre. Die 56-Jährige steht vor einem der Informationskästen auf dem Bahnsteig, entfernt die dortigen Hinweise auf Schienenersatzverkehr. Damals, als sie von dem Betrunkenen angegriffen wurde, hat sie so gehandelt, wie es Vorschrift ist. Sie hat einen Notruf an die sogenannte 3S-Zentrale abgesetzt.
Etwa 41 solcher Einrichtungen unterhält die Bahn bundesweit. „3S“steht für Sicherheit, Service und Sauberkeit. Im Münchener Hauptbahnhof sitzt die Zentrale, die für Schwaben und Oberbayern zuständig ist. Dort hat Tobias Bäuerle acht große Flachbildschirme im Blick, die Überwachungsbilder vom Münchener Hauptbahnhof liefern. Auch, wenn Notfallmeldungen in Augsburg, Kempten oder Memmingen abgesetzt werden, laufen sie hier ein. Bäuerle ist einer von vier Mitarbeitern, die sich rund um die Uhr um die Sicherheit im südbayerischen Raum kümmern. „Kommt dann ein Hilferuf von Personal oder Reisenden, leite ich die nächsten Schritte ein“, erklärt er. So wie an diesem Morgen, als in einer Regionalbahn in Prien am Chiemsee zwei Zugbegleiter attackiert wurden. Schon wieder.
„Um Viertel nach sechs ging der Notruf ein, dass ein Mann mit einer Waffe Menschen bedroht“, sagt Bäuerles Kollege Ludwig Fuchs, der in der neu geschaffenen Einsatzzentrale an der Donnersbergerbrücke arbeitet. Erst seit März bündelt die Bahn dort zentral alle sicherheitsrelevanten Themen in Bayern. Bei den beiden Mitarbeitern laufen alle Fäden zusammen. Der Randalierer vom Chiemsee, stellt sich nur wenig später heraus, ging mit einem Teppichmesser auf die Schaffner los, nachdem er beim Schwarzfahren erwischt worden war. Andere Reisende