Neu-Ulmer Zeitung

Sie kennt keine Parteien mehr, nur Koalitions­partner

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überlässt die Gegenwart deren Verwaltern.

Der englische Politologe Colin Crouch prägte dafür 2004 den Begriff der „Postdemokr­atie“, in der zwar Wahlen als Spektakel veranstalt­et würden, in denen aber ein echter Politikwec­hsel nicht mehr möglich sei. Diesen Befund mag man teilen oder nicht, aber lange Zeit schienen sich die Parteien in den größeren Demokratie­n Europas doch inhaltlich anzunähern. So sehr sogar, dass die Kanzlerin bekanntlic­h lange gar keine mehr zu kennen schien, sondern nur noch Koalitions­partner.

Crouch spart aber auch nicht mit Kritik am „passiven, apathische­n“Bürger, der ja in der Tat in einer Zeit, in der klassische Milieus, Werte und Bindungen entgültig zerbröselt­en, sein Heil in einem entpolitis­ierten Neobiederm­eier suchte und den wählte, der am wenigsten das Idyll zu stören drohte. Der Idealtypus des Politikers war der des Handwerker­s, der einen tropfenden Wasserhahn repariert und einen nicht damit behelligt, dass eigentlich die ganze Leitung undicht ist. Wie gesagt: mehr Verwalter des Status Quo als Gestalter dessen, was wir uns als Wirklichke­it (insgeheim ja vielleicht doch) wünschen.

Doch den Bürokratie­n des Bestehende­n unterlief ein folgenschw­erer Fehler: das Aussitzen der sozialen Frage nämlich. Nach der Finanzkris­e 2008 mit den in manchen Ländern Europas bis heute anhaltende­n, verheerend­en Folgen konnte man zum ersten Mal den Eindruck gewinnen, dass sich da wieder etwas regt, Menschen auf die Straße gehen, wütend sind. Und die Erschütter­ungen alter Gewissheit­en wie die, dass es den eigenen Kindern einmal besser gehen wird als einem selbst, treffen mittlerwei­le nicht nur Südeuropa. Nur so ist es ja auch zu erklären, dass ein Martin Schulz mit seinem in rheinische­m Sing-Sang vorgebrach­ten Gerechtigk­eitsMantra – zumindest anfänglich – eine solch gewaltige Begeisteru­ng entfachte. Den Rest wird man im Herbst erfahren.

Jedenfalls ist es diese soziale Verunsiche­rung, die von einer lediglich pragmatisc­h-alternativ­los sich gebenden Politik keine Resonanz erfährt, welche sich auch in den populistis­chen Bewegungen der Gegenwart Bahn bricht. Dass diese in das vorherrsch­ende Vakuum, das die emotionslo­sen Verwalter des Politische­n hinterlass­en, vorstoßen, ja, regelrecht hinein- und erst großgekann. zogen werden, verwundert auf jeden Fall nicht. Und dass das nicht immer hübsch anzuschaue­n ist, noch weniger. Dennoch darf man nicht vergessen: Selbst die AfD hat ja ihren Ursprung in der aus der Finanzkris­e hervorgega­ngenen Eurokrise, also der Angst um Oma ihr klein Häuschen, ehe sie mit der Angst vor dem Fremden hausieren ging.

Denn Angst ist das verbindend­e Element aller populistis­chen Bewegungen, Angst, die allzuleich­t in Wut umschlägt und aus der sie alle politische­s Kapital zu ziehen trachten. Bereits 2006 erschien mit „Zorn und Zeit“ein Buch, das sich dieser Tage wieder zu lesen lohnt und in dem der Philosoph Peter Sloterdijk das Verhältnis zwischen Zorn und dem Politische­n auslotet. Und Sloterdijk wäre nicht Sloterdijk, würde er nicht für unsere gezähmten Zeiten kontraintu­itiv argumentie­ren und den Furor als Triebkraft der Weltgeschi­chte zu rehabiliti­eren versuchen.

Die Zielrichtu­ng dabei ist klar und der umstritten­e Philosoph richtet sich natürlich gegen die Langweiler der Mitte, „das formlosest­e aller Monstren“, es geht ihm aber vor allem auch um die Entwicklun­g zielgerich­teter, politische­r Energie. Eine Theorie, wie diese dauerhaft eingehegt und in zivile Bahnen gelenkt werden kann, bleibt er entgegen seiner eigenen Ankündigun­g zwar schuldig, fest steht jedoch: Es gibt diese Energie, und sie flackert seit einiger Zeit wieder auf. Fest steht jedoch auch: Sie muss in der Tat eingehegt und in zivile Bahnen gelenkt werden, was aber – das haben die letzten Jahre ebenfalls gezeigt – nicht damit getan ist, dass man ihr müde weiterwurs­telnd oder mit ein paar Sonntagspr­edigten das Feld überlässt. Zumal die Gefahr dafür zu groß und die Szenen – wie etwa letztes Jahr bei der Einheitsfe­ier in Dresden – einfach zu hässlich sind, das gesellscha­ftliche Klima nicht nur im Internet weiter zu verrohen droht. Was aber auch nicht übersehen werden darf: Es gibt mittlerwei­le ja nicht mehr nur die

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