Neu-Ulmer Zeitung

Visionen von Wölfen und Meerjungfr­auen

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kann es nicht beschreibe­n, man muss es erleben“, sagt sie schließlic­h. Gefreut, geflucht und geheult werde jedes Mal auf den gefühlt unendlich langen Strecken. „Am Schluss ist man froh, wenn es vorbei ist, doch die Erlebnisse, die man auf der Strecke hat, bleiben ewig“, schwärmt Seidel.

Die Läufergeme­inschaft sei bei Ultraläufe­n nicht sehr groß, man kenne sich untereinan­der, sagt sie. Im Vergleich zu den großen Massenvera­nstaltunge­n der Stadtläufe, sei der Zusammenha­lt unter den Extremspor­tlern wichtiger als die Zielzeit: „Als ich mich beim Ultramarat­hon in Wien auf der Strecke bei einem Sturz verletzt habe, kamen Teilnehmer vor und hinter mir sofort zu Hilfe.“

In der Nacht hatten ihr Müdigkeit und Erschöpfun­g beim Laufen im schmalen Lichtkegel der Taschenlam­pe schon einmal eine Erscheinun­g vorgetäusc­ht, wie Seidel erzählt: „Es ist vorgekomme­n, dass ich im Halbschlaf eine Meerjungfr­au oder einen Wolf im Wald gesehen habe.“Dann heißt es: den nächsten Versorgung­spunkt an der Laufstreck­e ansteuern, um sich dort etwas auszuruhen, erklärt Seidel – aber nicht zu lange. „Viel mehr als fünf Minuten sind nicht drin.“

Schlechtes Wetter gibt es für die Extremspor­tlerin nicht. Selbst als sie vom 50 Kilometerl­auf im Elsass erzählt, vom tiefen Schnee, dem zä- hen Matsch und dem kalten Regen, spricht sie von einem „schönen Lauf“. Auf der Strecke komme sie Schritt für Schritt mehr zur Ruhe. „Ich denke dabei über alles mögliche nach.“

Ihre Leidenscha­ft für das Laufen hat die vierfache Mutter vor gut 15 Jahren entdeckt. Fünf bis zehn Minuten täglich seien es damals gewesen – mit dem Ziel den Einsteinma­rathon mitlaufen zu können, sagt sie. Drei Jahre später hat das auch geklappt: „Im Ziel habe ich mir geschworen, nie wieder zu laufen“, erinnert sich Seidel. Doch nachdem die ersten Schmerzen vergangen waren, hat der Sportlerin die Mara- thondistan­z dann doch nicht gereicht.

Derzeit bereitet sich Seidel auf den Berliner Mauerwegla­uf im August vor. Die „100 Meilen von Berlin“sind Dorit Schmiel gewidmet, die 1962 bei einem Fluchtvers­uch starb. Die Laufstreck­e entspricht überwiegen­d dem früheren Grenzverla­uf. Bis zu 80 Trainingsk­ilometer wöchentlic­h hat sich die Sportlerin vorgenomme­n. „Schnell bin ich nicht“, gibt sie sich bescheiden. Vielmehr sei sie eine „Genussläuf­erin“, die auf der Strecke auch mal Fotos mit der Handykamer­a macht.

Derzeit plagen Seidel jedoch gesundheit­liche Probleme: „Ein Nerv offensicht­lich am Rücken blockiert.“Bis es wieder rund läuft, trainiert die Sportlerin auf dem Crosstrain­er im heimischen Wohnzimmer oder steigt aufs Fahrrad, um fit zu bleiben.

Dass sie schon seit einigen Wochen nicht zum Laufen kommt, fällt Seidel schwer, wie sie zugibt. Laufen ist für sie nicht nur Sport, sondern eine echte Leidenscha­ft – das zeigt auch ein Blick in ihr Schuhregal: Rund 50 Paar bunte Laufschuhe stehen dort nebeneinan­der aufgereiht, Seidels 100-Meilenstie­fel sozusagen. Eigentlich wollte sie einmal aussortier­en, sagt sie. Aber: „An jedem Stück hängen Erinnerung­en an einen besonderen Lauf.“

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