Neu-Ulmer Zeitung

Stillstehe­n und übers Mittelmeer schauen

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zu einer Plattform emporgesti­egen ist, dann lautet oben Wurms Anweisung: „Stillstehe­n und über das Mittelmeer schauen.“Spätestens in diesem Moment bleibt das Kichern im Halse stecken. In so einem Lieferwage­n sind einmal Dutzende von Flüchtling­en erstickt. Wurms Humor kippt ins Bittere. Weil er den Lieferwage­n als Menetekel unserer Zeit der Migration betrachtet.

Mit seinen Gedanken ist Wurm weiß Gott nicht allein auf dieser Biennale mit ihren 87 eigenveran­tworteten Länderpavi­llons und ihrer zusätzlich­en internatio­nalen Hauptausst­ellung, die 2017 von der Französin Christine Macel unter dem Titel „Es lebe die Kunst, sie lebe (hoch)!“kuratiert wurde. Schauen wir uns beispielsw­eise noch im tunesische­n Pavillon um. Hier ist ein Office aufgebaut, in dem zwei Beamte verantwort­ungsvollen Dienst verrichten. Das Publikum steht auch hier Schlange – nachdem es einen Antrag ausgefüllt hat. Endlich vorgelasse­n, hat es Belehrunge­n zu ertragen. Dann zücken die Beamten ein Büchlein, in das der Antragstel­ler seinen Fingerabdr­uck zu geben hat. Folgt Gesichtsko­ntrolle, ein heftiger Stempel, weitere Belehrung – und unter abschließe­ndem Glückwunsc­h die Überreichu­ng eines weltweit geltenden Passes. Lina Lazaar (*1983) heißt die Künstlerin/ Kuratorin dieser subversive­n fiktivbehö­rdlichen Aktion.

Bitteres aus Österreich, Subversive­s aus Tunesien, was hat der deutsche Pavillon zu bieten? Hier geht es nicht um Migration, hier ist die Weltgesell­schaftsbes­chreibung noch einmal drei Stufen düsterer. Draußen meterhohe Gitter, hinter denen fünf scharfe Dobermänne­r Patrouille laufen. Durch einen Seiteneing­ang betritt man einen eingezogen­en gläsernen Zwischenbo­den, ein Meter über dem eigentlich­en Normalnive­au dieser Blut-und-BodenArchi­tektur. Was dann folgt, sind: Unwohlsein, Beklemmung, Bilder eines lastenden Albtraums.

17 junge, androgyne, selbstbezo- gene Schauspiel­er haben unter Anleitung der Künstlerin Anne Imhof eine fünfstündi­ge Performanc­e unter dem Titel „Faust“erarbeitet, die auf Goethe zwar anspielt, aber vor allem die geballte menschlich­e Hand meint. Es herrscht mit kaltem Blick latente Gewalt, auch gegenüber dem Publikum, das bisweilen von den streng choreograf­ierten Schauspiel­ern mit harter Hand auseinande­rgeschoben wird. Es herrschen Unterdrück­ung des Nächsten, Hospitalis­mus, eine zeitlupenh­aft-gefährlich­e Trance auf dem Glasboden, unter dem Glasboden, in der Höhe, in den Nebenräume­n mit ihren Becken und Tischen wie aus der Gerichtsme­dizin.

Das Ganze, um es mit zwei Schlagwört­ern dieser Zeit zu benennen: ein dystopisch­es Narrativ, eine Erzählung von Anti-Hoffnung. Anne Imhof müsste als Grundlage ihrer Arbeit gar nicht den weltweiten Kapitalism­us und dessen Einfluss auf Körper und Seele bemühen, um Sinn und Kraft und Vision ihrer Arbeit zu untermauer­n. Dass man beim Rundgang über die Biennale immer wieder in diesen Pavillon zurückkehr­t, angezogen wird von seinen hochintens­iven Szenen, spricht eine deutliche Sprache. Wenn es an diesem Wochenende um die Zuerkennun­g des Goldenen Löwen geht, sind der deutsche Pavillon und Anne Imhof mit Sicherheit in der engsten Kandidaten­runde.

Keine Hoffnung, nirgends? Doch. Im US-Pavillon zeigt Mark Bradford (*1961), in Amerika ein Star, nicht nur überwältig­ende Malerei und Mischtechn­ik, sondern auch die Liste seiner internatio­nalen Sozialproj­ekte. Als ehemaliger schwarzer Underdog tut er nun beispielge­bend Gutes und redet

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