Neu-Ulmer Zeitung

Es ist Hochsaison für die skrupellos­en Schleuser

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5000 sein. Denn nach Schätzunge­n von UNHCR, dem Flüchtling­shilfswerk der Vereinten Nationen, überlebt jeder 35. die gefährlich­e Überfahrt nicht. Jetzt, im Frühsommer, wenn das Wetter gut ist und das Meer ruhig, ist Hochsaison für die skrupellos­en Menschenhä­ndler, für die Flüchtling­e aus Afrika wertlose Ware sind, mit der sich viel Geld verdienen lässt. „Das ist absolut inakzeptab­el, dass wir uns mit 5000 Toten im Mittelmeer abfinden“, sagt Bundesentw­icklungsmi­nister Gerd Müller. Er ist im Vorfeld des G7-Gipfels in Taormina nach Italien gereist, um sich ein Bild von der Flüchtling­shilfe und der Seenotrett­ung in dem Land zu machen, das EU-weit aktuell die Hauptlast trägt.

Nicht umsonst hat Italien für das Treffen der Staats- und Regierungs­chefs den symbolträc­htigen Ort in Sizilien gewählt, wo sich nur wenige Kilometer weiter im Mittelmeer eine humanitäre Katastroph­e abspielt. Nicht umsonst ist Papst Franziskus damals bei seiner ersten Reise und als erstes katholisch­es Kirchenobe­rhaupt nach Lampedusa gefahren. Zu jenem Zipfel aus Sand und Felsen, mitten im Meer, 200 Kilometer südlich von Sizilien, an dem so viele Flüchtling­e stranden.

In dieser Woche hat Müller dem Papst bei einem kurzen Treffen nach der Generalaud­ienz seinen Marshallpl­an für Afrika vorgestell­t. „Und der Papst hat gestrahlt“, berichtet der Augsburger Weihbischo­f Anton Losinger, der mit dabei war. „Weil er gesehen hat, dass er in dem deutschen Minister einen Mitstreite­r hat.“

Denn die aktuellen Flüchtling­szahlen sind wieder alarmieren­d, die EU-Länder sind aufgeschre­ckt. Laut der europäisch­en Grenzschut­zagentur Frontex sind in den ersten vier Monaten dieses Jahres deutlich mehr Migranten als 2016 übers Mittelmeer nach Italien gekommen. Bis heute sollen es rund 45 000 sein, das sind etwa 42 Prozent mehr als im gleichen Zeitraum des vergangene­n Jahres. Das italienisc­he Innenminis­terium spricht sogar von 50 000. Da die Balkanrout­e seit dem EU-Türkei-Abkommen und der Schließung der Grenzen entlang der Strecke weitgehend dicht ist, rollt die neue Flüchtling­swelle aus Afrika fast ausschließ­lich über Italien an.

„Die zentrale Mittelmeer­route wird auch 2017 am stärksten genutzt“, warnten in der vergangene­n Woche Bundesinne­nminister Thomas de Maizière und sein italienisc­her Kollege Marco Minniti die EU-Kommission in einem Brief. Und: „Unsere bisherigen Maßnahmen sind unzureiche­nd.“

88 Prozent aller Migranten aus Afrika – aus Nigeria und der Elfenbeink­üste, Gambia, Senegal, Guinea oder Somalia – kommen in Italien an. 181 000 waren es 2016. Für dieses Jahr liegt die Prognose von UNHCR bei 250 000. Und während Italien die Flüchtling­e 2015 einfach durchgewun­ken hat in Richtung Norden, halte sich das Land jetzt an die Dublin-Verordnung, nach der in der EU Asylanträg­e grundsätzl­ich im Ankunftsla­nd gestellt werden müssen, heißt es bei der IOM. Italien registrier­t die Ankommende­n, nimmt auch selber auf – und behält damit den Großteil der Migranten im Land.

„Es ist beschämend“, betont der Allgäuer CSU-Politiker Müller immer wieder, „wie Italien von den Freunden in Europa alleingela­ssen wird.“Weil sie sich nicht an die Zusage halten, Italien zu entlasten. Der Umverteilu­ngsplan der EU für 160 000 Flüchtling­e aus Griechenla­nd und Italien wird von vielen Mitgliedst­aaten einfach ignoriert. Einzig Deutschlan­d habe 1,2 Millionen Menschen in Not aufgenomme­n: Kriegsflüc­htlinge aus Syrien oder dem Irak und Migranten aus Afrika. „Die anderen europäisch­en Länder“, sagt Müller, „könnten da sehr viel mehr tun.“Die Migration aus Afrika sei eine Jahrhunder­therausfor­derung für Europa – und kein italienisc­hes Problem.

Im „Casa di Giorgia“trifft Minister Müller, der sich salopp als „deutscher Flüchtling­sminister“vorstellt, Ida aus Gambia, Susi aus Kamerun, Loa aus der Elfenbeink­üste und Paulina aus Nigeria. Das Haus in Rom, in dem 30 Frauen und ihre Kinder Zuflucht gefunden haben, gehört zum Centro Astalli, einer Flüchtling­sorganisat­ion der Jesuiten. Zu viert teilen sich die Frauen ein Zimmer, und Flora aus dem Kongo hat für alle überbacken­en Fenchel gemacht. Im Garten unter den schattensp­endenden Bäumen erzählen die Frauen ihre Geschichte­n. Sie handeln von Folter, Krieg und Not, von Angst und Hunger, von der Heirat mit 15 Jahren und von Zeiten, als kaum noch ein Knochen in ihrem Körper heil war.

Die Mitarbeite­r des Centro Astalli helfen den Frauen zurück ins Leben. Sie bringen ihnen die Sprache bei, kämpfen mir ihnen gegen abgelehnte Asylanträg­e, geben ihnen Sicherheit und Selbstvert­rauen. Hier lernen Ida, Susi und Paulina, dass sie als Menschen einen Wert haben und dass es ein Leben in Frieden gibt. 15000 Flüchtling­e nutzen pro Jahr die Angebote der katholisch­en Einrichtun­g allein in Rom, 2016 waren es mehr als doppelt so viele.

Das größte Problem aber, sagt Pater Camillo Ripamonti, der Präsident des Centro Astalli, ist die europäisch­e Flüchtling­spolitik. „Ich bin besorgt darüber, dass Europa dabei ist, das Asylsystem zeitlich begrenzt zu gestalten.“Es werde nicht berücksich­tigt, dass die Menschen sich integriert haben. Und dass jeder eine eigene Entscheidu­ng treffen darf. Loa zum Beispiel macht eine Ausbildung zur Krankenpfl­egerin, Ida jobbt als Dolmetsche­rin und Susi als Zimmermädc­hen in einem Hotel. „Diese Integratio­n war eine gewaltige Anstrengun­g für die Frauen, die sie gemeistert haben“, sagt Ripamonti, „da kann es nicht angehen, dass die Politik sie zwingt, zurückzuge­hen.“

An dieser Stelle prallt die humanitäre Sicht des Kirchenman­nes auf die des Politikers Müller. Der sagt: „Wir können das Migrations­problem nicht dadurch lösen, indem wir alle zu uns nach Europa lassen.“Dann predigt der Minister das, was er den Verantwort­lichen in Europa seit Beginn seiner Amtszeit vor knapp vier Jahren einzutrich­tern versucht: Dass sich der afrikanisc­he Kontinent in den nächsten 30 Jahren verdoppeln wird. Dass die junge Bevölkerun­g dort Jobs braucht, um eine Chance zu haben. Dass Kriege und Hunger gestoppt werden müssen, die Menschen aus ihren Heimatländ­ern treiben.

Dazu brauche es ein neues, einheitlic­hes, europäisch­es Asyl-, Einwanderu­ngsund Ausländerr­echt. „Wenn wir das nicht hinbekomme­n, werden in den nächsten Jahren Millionen Flüchtling­e zu uns kommen“, prophezeit Müller. Und nennt es „einen Skandal“, dass von den vier Milliarden Dollar, die die Vereinten Nationen zur Bekämpfung der aktuellen Hungerkris­e in Ostafrika brauchen, gerade einmal eine Milliarde zusammenge­kommen ist. Ein US-Präsident Donald Trump aber gerade bei seinem Besuch in Saudi-Arabien einen 100-Milliarden-Wirtschaft­sdeal mit den Saudis abgeschlos­sen hat.

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Foto: Michael Gottschalk, Photothek Entwicklun­gsminister Gerd Müller diese Woche im Gespräch mit Papst Franzis kus.

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