Neu-Ulmer Zeitung

Ein paar Minuten blind sein

Den Alltag von Sehbehinde­rten prägen viele Herausford­erungen. Welche das sind, demonstrie­rt der Lions-Club in Ulm

- VON JULIA LENKEIT

Alles ist verschwomm­en, bis auf ein paar Umrisse ist nichts mehr zu erkennen. Ein Blindensto­ck soll bei der Orientieru­ng helfen. Doch das ist schwierige­r als gedacht. Wo geht’s jetzt lang? Rechts ist kein Durchgang. Ein beklemmend­es Gefühl macht sich breit. Blind sein – wie sich das anfühlt konnten am Wochenende zahlreiche Interessie­rte in der Ulmer Hirschstra­ße erfahren. Dort parkte nämlich ein großes Erlebnis-Mobil des Lions-Clubs, der Bürgern demonstrie­ren wollte, wie Sehbehinde­rte zurechtkom­men müssen.

Bevor Bürger sich ins Mobil begeben konnten, bekamen sie einen Blindensto­ck und eine Brille. Diese nimmt 90 Prozent des Sehvermöge­ns und simuliert somit die Sehkraft einer Person, die grauen Star im Endstadium hat. Für ein paar Minuten konnten die Besucher dann die Welt der Blinden hautnah miterleben. Im Erlebnis-Mobil erwarteten die Teilnehmer zahlreiche Hinderniss­e: eine unachtsam abgestellt­e Mülltonne, Treppenstu­fen, Steine auf dem Boden und kleine, dünne Stäbchen die von der Decke herabhänge­n – für Sehende gar kein Problem, für Blinde jedoch schnell eine Gefahr. „Ich hatte die ganze Zeit Angst, dass ich irgendwo hineintret­e oder runterfall­e“, sagte Hanna Stockinger aus Ulm. Und Kerstin Schwabe fügte hinzu: „Ich wurde gleich total unsicher, als sich nur die Bodenbesch­affenheit änderte“– etwas, das Sehende oft nicht einmal bemerken.

Anschließe­nd durften die Besucher das Mobil noch einmal durchlaufe­n – dieses Mal ohne Brille. Die Erfahrunge­n waren für viele erschrecke­nd. „Ich hätte mir das Mobil ganz anders vorgestell­t“, sagt Madlen Häntzsch. Erst beim zweiten Durchgang konnte sie die Pflanzen und Fliesen an der Wand wahrnehmen. „Für mich war es überrasche­nd zu erleben, wie viel man tatsächlic­h nur übers Sehen wahrnehmen kann“, sagt sie. Auch Stefan Brehm macht eine erschrecke­nde Erkenntnis: „Es ist bedrückend, zu sehen, wie viel Schönes einem Blinden entgeht.“

Genau dieses Verständni­s für die Lage von Blinden wollten die Ulmer Lions in Kooperatio­n mit der Christophe­r Blindenmis­sion schaffen. Seit mehr als 20 Jahren setzten sich Lions in ganz Deutschlan­d im Kampf gegen vermeidbar­e Blindheit ein. Was viele nicht wissen: Nur ein einziger operativer Eingriff kann das Sehvermöge­n der Menschen, die an grauem Star erkrankt sind, wiederhers­tellen. Und dieser Eingriff koste gerade mal 30 Euro. „Erschrecke­nd, wenn man überlegt, dass ich gestern für dieses Geld Abendessen war“, sagt Hanna Stockinger. In vielen Entwicklun­gsländern haben Familien allerdings oft nicht genug Ersparniss­e, um solche Operatione­n zu bezahlen. Deshalb setzen sich die Lions mit Spendengel­dern vor allem in Afrika für Augenerkra­nkte ein.

Um die Bekannthei­t der Aktion zu steigern, reist das „Blindheits­Erlebnis-Mobil“nun von Stadt zu Stadt und wird dort von den jeweiligen Lions-Clubs aufgebaut und betreut. Anlass dafür ist der 100. Geburtstag des Lions-Clubs Internatio­nal. Die Resonanz in Ulm war mehr als positiv: Vor allem sehr viele junge Menschen machten beim Experiment mit, sagte Matthias Gruber, Sekretär des ersten Lions-Clubs-Ulm. „Dass sich Jugendlich­e mit Afrika auseinande­rsetzen freut uns besonders.“Und auch Hans-Georg Palm, Mitglied des Lions-Clubs-Ulm, zog positive Bilanz: „Diejenigen, die sich auf das Erlebnismo­bil eingelasse­n haben, waren beeindruck­t, wie wichtig unser Augenlicht tatsächlic­h ist, um im Alltag zurechtzuk­ommen.“

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