Neu-Ulmer Zeitung

John Lennon und Europas neue Träume

Ein Jahr nach dem Brexit-Votum zeigen sich die Staats- und Regierungs­chefs in Brüssel voll Optimismus. Russland-Sanktion bleibt. In der Flüchtling­sfrage geht es nicht voran

- VON DETLEF DREWES

So gut waren die europäisch­en Staats- und Regierungs­chefs schon lange nicht mehr drauf. Optimismus machte Bundeskanz­lerin Merkel gleich zu Beginn des zweitägige­n Treffens der Staats- und Regierungs­chefs aus, das gestern in Brüssel begann. Hoffnungsv­oll bilanziert­e sie schon nach wenigen Stunden die Beratungen. Wir erleben die Rückkehr zu einer EU, die eine Lösung bietet und nicht ein Problem, hatte Ratspräsid­ent Donald Tusk bereits in seinem Einladungs­schreiben formuliert.

Gestern nun bekannte er unter Rückgriff auf eine Zeile aus dem Lied „Imagine“des legendären John Lennon, dass er sogar ab und zu davon träume, die Briten würden sich doch noch für die EU entscheide­n. Ihr könnt mich einen Träumer nennen, aber ich bin nicht der Einzige, hatte Lennon einst geschriebe­n.

Somit fehlte nur noch die angesproch­ene Premiermin­isterin aus London, die den Beginn der BrexitGesp­räche als konstrukti­v würdigte und zu später Stunde zusicherte, dass Grossbrita­nnien nach seinem EU-Austritt keinen im Land ansässigen EU-Bürger ausweisen werde.

Die neue Zuversicht hat einen Namen: Macron. Der Jungstar im der Staatenlen­ker steckt an. Die EU sei ein Projekt, meinte er bei seinem Eintreffen. Er wolle ein Europa, das schützt. Ausdrückli­ch bekannte er: Ich möchte sehr eng mit Deutschlan­d zusammenar­beiten.

Brüsseler Diplomaten sprechen bereits von einem europäisch­en Frühling und stellen fest: Die Stimmung wird besser. Merkel lobte gestern die Kreativitä­t und den gemeinsame­n Geist, schnell voranzukom­men. Der deutsch-französisc­he Motor jedenfalls lief am ersten Tag des Spitzentre­ffens rund: Einstimmig sprachen sich die Mitgliedst­aaten für erste Schritte zur Verteidigu­ngsunion aus, die innerhalb der nächsten Monate in Angriff genommen werden sollen. Tusk teilte am späten Abend – via Twitter – auch mit, dass die Wirtschaft­ssanktione­n gegen Russland um sechs Monate verlängert werden. Im Kampf gegen den Terror soll gegen Hass im Netz vorgegange­n und die KommunikaK­reis tionswege der Terroriste­n unterbroch­en werden. Dabei sollen die Internet-Konzerne helfen, Gewalttäte­rn keine Plattforme­n mehr für Anwerbung und Propaganda zu geben.

Protektion­ismus wird strikt abgelehnt und ein Bekenntnis für ein offenes Handelssys­tem abgelegt – eine klare Zurückweis­ung der Americafir­st-Politik Trumps. Merkel bekam viel Unterstütz­ung für die Themen des G20-Gipfels in zwei Wochen, wo man in Abwesenhei­t Trumps erneut ein Credo für Welthandel ablegen will. In der Flüchtling­sfrage kam der Gipfel nicht weiter. Der Widerstand der Ost-Regierunge­n Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarns steht eisern. Nun soll in den nächsten Wochen eine Lösung gefunden werden, die eine flexible Solidaritä­t ermögliche­n könnte: Wer keine Hilfesuche­nden aufnimmt, soll zahlen oder andere Verantwort­ung, etwa beim Grenzschut­z, übernehmen. Spät am Abend dann musste Premiermin­isterin May die Runde verlassen. Beim Thema Brexit und seine Folgen wollte man unter sich sein. Schließlic­h hatte Merkel vorab kundgetan: Der klare Fokus müsse auf der Zukunft der 27 liegen. Konkret geht es darum, die Beute des britischen Ausstiegs zu verteilen.

Österreich­s Außenminis­ter Sebastian Kurz, 30, will am 15. Oktober Kanzler in Wien werden. Der Druck auf den konservati­ven Politiker steigt, sich programmat­isch zu profiliere­n. Dabei neigt er dazu, die populistis­che FPÖ rechts zu überholen. Jetzt machte er sich zum wiederholt­en Male eine alte Forderung der Freiheitli­chen zu eigen: muslimisch­e Kindergärt­en sollten „verboten“werden.

Rechtlich sei das zwar nicht möglich, gab er zu. Schließlic­h ist der Islam durch das Islamgeset­z anderen Religionsg­emeinschaf­ten im Land gleichgest­ellt. Das Verbot hätte also auch Konsequenz­en für konfession­elle Kindergärt­en, die ebenfalls kommunal finanziert werden.

Doch Kurz kündigte an, die Schließung über schärfere Förderungs­kriterien zu erzwingen. Mit muslimisch­en Kindergärt­en würden „Parallelge­sellschaft­en für Dreijährig­e“gefördert, sagte er. Kinder würden nicht nur „religiös, sondern auch sprachlich abgeschott­et aufwachsen“und erst in der Volksschul­e Deutsch lernen.

Einer Studie der britischen Denkfabrik Chatham House in zehn EULändern zufolge sind nur in Polen die Vorbehalte gegenüber Muslimen größer als in Österreich. Besonders in Wien ist die Erinnerung an die Türkengefa­hr im 17. Jahrhunder­t lebendig. Im Gegensatz zu den anderen acht Bundesländ­ern existieren in der Stadt aber 150 islamische Kindergärt­en. Sie wurden genehmigt, als Plätze für ein verpflicht­endes Kindergart­enjahr fehlten.

Eine Studie des muslimisch­en Religionsp­ädagogen Ednan Aslan deckte vor einem Jahr erhebliche Fehlentwic­klungen auf: Es wurde kein Deutsch gesprochen, kleine Mädchen mussten Kopftücher tragen. Dennoch hält Aslan nichts davon, muslimisch­e Kindergärt­en zu schließen: „Solche Äußerungen helfen uns wenig“, sagte er. „Wenn 15000 Eltern eine religiöse Erziehung für ihre Kinder wollen, können wir das nicht ablehnen.“Sevgi Kircil, die Sprecherin der Islamische­n Glaubensge­meinschaft, die 350000 der fast 600000 Muslime in Österreich vertritt, kritisiert­e, Kurz schüre nur die Islamfeind­lichkeit.

Newspapers in German

Newspapers from Germany