Neu-Ulmer Zeitung

Als am Bodensee die Welt zusammenbr­ach

Es ist eine Horrorvors­tellung: Über den Wolken rasen zwei Flugzeuge ineinander. Und unten am Boden rauschen die Trümmer haarscharf an einer Stadt vorbei. Vor 15 Jahren ist das bei Überlingen tatsächlic­h passiert. Das Drama war damit aber noch nicht vorbei

- VON NILS KÖHLER

Der Knall, der Feuerball, der Kerosinger­uch, das alles hat sich tief ins Gedächtnis von Erika und Berthold Grundler gebrannt. Sie wohnen in Aufkirch, einem Stadtteil von Überlingen am Bodensee, der am 1. Juli 2002 nur knapp einer Katastroph­e entgeht. Erika Grundler hört damals „diesen Wahnsinnsk­nall“. Zusammen mit ihrem Mann beobachtet sie am Fenster, „wie drei Teile brennend durch die Luft flogen – zwei in Richtung Norden, eines bewegte sich auf uns zu“. Es habe gebullert wie ein Ofen, der nach Luft japst, sagt Berthold Grundler. Im Spiegelsch­rank vibriert das Geschirr. Ein Flügelteil mit 4000 Litern Kerosin rammt sich in ein Maisfeld, nur wenige hundert Meter entfernt.

Auf der Straße eilen Schaulusti­ge, teils mit Kindern auf dem Rücken, in Richtung des brennenden Wrackteils. Schon bald folgen Hubschraub­er der Bundeswehr, die die Felder mit Scheinwerf­ern absuchen. Soldaten klingeln und fragen, ob sie den Garten nach Trümmern absuchen dürfen. Unten auf dem Bodensee kreuzen immer mehr Schiffe. Es ist ja die Horrorvors­tellung eines jeden Anwohners, dass auf einmal brennende Flugzeugte­ile vom Himmel stürzen. Wie es die Horrorvors­tellung eines jeden Fluggastes ist, wenn sich zwei Maschinen auf Kollisions­kurs befinden – und in einer unendliche­s Leid zugefügt habe. Er erhebt aber auch schwere Vorwürfe gegen dessen Arbeitgebe­r Skyguide: „Die ganze Schuld am Unglück wurde auf den Lotsen geschoben. Sie hätten ihn als Zeugen schützen müssen. Er war Kronzeuge und hätte vor Gericht aussagen können.“

Skyguide, „das ist heute eine andere Firma“, sagt Vladi Barrosa, Sprecher der Schweizer Flugsicher­ung in Zürich, und rührt in der Kantine seinen Kaffee um. „Man hat damals viel Energie und Geld investiert, um die Learnings von Überlingen umzusetzen“, sagt er. Unter den „Learnings von Überlingen“versteht Barrosa vor allem mehr Personal und das Vier-AugenPrinz­ip. An- und Abflüge würden heute separat betreut, sodass es zu keinen Überschnei­dungen kommen soll. Oder: Eine Standleitu­ng könne wegen Wartungsar­beiten nicht mehr abgeschalt­et werden.

22 Monate lang bleibt damals die quälende Frage unbeantwor­tet, wie das passieren konnte. Dass zwei Verkehrsfl­ugzeuge in so großer Höhe mit über 700 Stundenkil­ometern aufeinande­rprallen, scheint bis dahin auch für die Fachwelt undenkbar. Sowohl in den Flugzeugen als auch bei der Flugsicher­ung gibt es Kollisions­warngeräte. Doch am Ende versagt der Mensch.

Lange scheut sich die Spitze des Unternehme­ns, Fehler öffentlich einzuräume­n. Nicht zuletzt wegen der Schadeners­atzforderu­ngen in

 ?? Archivfoto: Rolf Haid, dpa ?? Drei Tage nach dem Absturz: Angehörige der russischen Absturzopf­er trauern bei Überlingen am zerstörten Heck der Tupolew 154.
Archivfoto: Rolf Haid, dpa Drei Tage nach dem Absturz: Angehörige der russischen Absturzopf­er trauern bei Überlingen am zerstörten Heck der Tupolew 154.

Newspapers in German

Newspapers from Germany