Unter den Todesopfern waren 49 Schulkinder
davon sitzt man selbst drin. All das wird vor 15 Jahren traurige Wirklichkeit. Vor unserer Haustür.
Kurz vor Mitternacht krachen bei Überlingen eine Tupolew-Passagiermaschine mit 69 Menschen an Bord und eine mit zwei Piloten besetzte Fracht-Boeing des Kurierdienstes DHL zusammen. Alle 71 Menschen an Bord kommen ums Leben. Unter den Opfern sind 49 Schulkinder. Sie stammen aus der russischen Teilrepublik Baschkortostan – und wollten zwei Wochen Urlaub in Spanien machen.
Ein Drama, das eine ganze Kette an schrecklichen Nachrichten nach sich zieht. Beispielsweise, als die Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung zwei Jahre später in ihrem Abschlussbericht feststellt, dass das Unglück auf technische Mängel und menschliche Fehler bei der Schweizer Flugsicherung Skyguide zurückgeht, die damals wie heute Teile Süddeutschlands überwacht.
Gegen 23.30 Uhr befinden sich beide Flugzeuge in etwa 11 500 Metern Höhe. Bei Überlingen sollen sich ihre Wege kreuzen. Im Zürcher Kontrollzentrum sitzt ein Fluglotse, der allein für den Luftraum über Süddeutschland zuständig ist und dessen Radar und Telefon wegen Wartungsarbeiten nur eingeschränkt zur Verfügung stehen. Dass ein Unglück droht, bemerkt der Mann zu spät. Um 23.35 Uhr und 32 Sekunden kollidieren die Flugzeuge. Und damit nicht genug.
Der Mann, der den folgenschweren Fehler macht, ein 36-jähriger Däne, wird später ebenfalls getötet. 2004 ersticht ihn einer der Hinterbliebenen, der Russe Witali Kalojew, der bei dem Absturz Frau und Kinder verloren hat. Er wird in der Schweiz zu acht Jahren Haft verurteilt. 2008 darf er das Gefängnis vorzeitig verlassen. Bei der Rückkehr in seine Heimat feiern ihn viele als Helden. Später wird Kalojew zum stellvertretenden Bauminister der russischen Teilrepublik Nordossetien im Nordkaukasus ernannt.
Das ist noch weit weg, als in der Juli-Nacht 2002 unzählige Wrackteile über dem nordwestlichen Bodenseeufer niedergehen. Die Trümmer liegen kilometerweit verstreut. Das Unglaubliche ist: Die Stadt bleibt verschont, am Boden gibt es keine Verletzten. Wären die Flugzeuge nur wenige hundert Meter weiter südlich zusammengestoßen, wären die Altstadt und auch das Krankenhaus betroffen gewesen.
Welche Gefahr ihr drohte, wird Erika Grundler erst am nächsten Tag bewusst. „Ein Spaziergänger schüttelte mir die Hand und gratulierte.“Er habe den riesigen Feuerball von seinem Balkon am Krankenhaus aus beobachtet und zu seiner Frau gesagt: Aufkirch ist jetzt womöglich ausradiert. „Da wurde mir bewusst, welches Glück wir hatten.“Nur Stunden zuvor haben die Tschernobyl-Kinder aus Kiew verabschiedet, die zur Erholung am Bodensee waren.
Noch heute bewegt sie der Gedanke, dass an jeder Absturzstelle ein Wegkreuz steht. Wenn die beiden im Stadtteil Brachenreuthe spazieren gehen, suchen sie regelmäßig die dortige Gedenkstätte auf – die großen silbernen Kugeln an einem Draht, die eine zerrissene Kette symbolisieren. An ihrem Haus klingeln immer wieder Fremde und fragen, manchmal auf Russisch, wo die Gedenkstätte steht. Und manchmal stehen Busse dort oben, deren Insassen um den Gedenkstein mit den Namen der 71 Opfer stehen. „Vergessen“, sagt Erika Grundler, „werde ich das alles nie.“
Wie in den Jahren zuvor werden auch zu diesem Gedenktag Hinterbliebene nach Überlingen kommen. Geplant ist ein Empfang für die etwa 100 russischen Gäste und Regierungsvertreter. Am Samstagabend zur Unglückszeit um 23.35 Uhr werden an der Gedenkstätte Brachenreuthe die Namen der Opfer verlesen. Ebenso wird es an der Absturzstelle der DHL-Maschine im benachbarten Owingen eine Gedenkfeier für die Piloten geben.
„Diese Bilder kommen immer wieder“, sagt Sulfat Chammatow, 56, im 3290 Kilometer entfernten Ufa in Baschkortostan. Über Skype, dem Videokonferenzdienst im Internet, sind wir an diesem Nachmittag verbunden; eine gebürtige Russin, die am Bodensee eine Schule leitet, übersetzt. Chammatow gehört zu denen, die am Wochenende nach Überlingen reisen. Er ist Sprecher der Angehörigen. In der Tupolew sitzt damals sein Sohn Artur. Er ist gerade elf geworden, ein musisch und mathematisch begabter Junge. Und er ist zu diesem Zeitpunkt das einzige Kind der Chammatows.
Wie er damals von dem Unglück erfahren hat? Sulfat schweigt zunächst. Dann fängt er an zu erzählen: „ Ich bin am Morgen des 2. Juli aufgestanden und habe mich zur Arbeit fertig gemacht. Um 7 Uhr zeigte das Fernsehen die ersten Aufnahmen vom Unglücksort. Ich sah das Wrackteil eines Flugzeugs, auf das eine Biene gemalt war. Das war das Emblem der Bashkirian Airlines. Damals hat sich der Nachrichtensprecher noch geirrt. Er meinte, es sei eine weißrussische Airline, aber ich sah diese Biene. Dann hörte ich, dass eine Gruppe von Kindern, die nach Spanien fliegen wollten, ums Leben gekommen waren. Ich ahnte, dass es unsere Kinder waren.“
Anschließend fährt der BetriebsGrundlers wirt in seine Firma. Die Reaktionen seiner Kollegen sind hilflos: „Sie haben mir nicht in die Augen geschaut, sie haben meinen Blick gemieden. Sie alle spürten auch meinen Schmerz.“
Inzwischen haben Sulfat Chammatow und seine Frau Ida zwei weitere Söhne, die nach dem Unglück geboren wurden. Das habe ihnen viel Kraft gegeben, sagt Dolmetscherin Nadja Wintermeyer. Mit den Menschen vom Bodensee fühlen sich Chammatow und die anderen Hinterbliebenen bis heute eng verbunden. „Die Deutschen haben unser Leid wie ihr eigenes empfunden.“Und als Beispiel erzählt er diese Geschichte: „Als wir am 4. Juli mit dem Bus ankamen, waren draußen keine Kinder und sehr wenig Menschen. Wir haben uns damals gewundert: so eine schöne Gegend, so viel Natur und so wenige Menschen mitten im Sommer. Später hat man uns gesagt, dass viele es vermieden hätten, ihre Kinder draußen spielen zu lassen, damit es uns nicht noch mehr schmerzt. Wir empfanden das als eine sehr große, sehr herzliche Geste.“
Und wie sieht er den späteren Mord an Peter N., dem Fluglotsen? Chammatow sagt, er verurteile die Tat, die auch der Familie des Lotsen