Neu-Ulmer Zeitung

Hör auf Hacke!

- DANIEL WIRSCHING Andrej Sokolow, dpa/AZ

Ich liebe dieses Internet! Nichts geht darin verloren. Auch nicht die Frage, die eine „sunshinevi­vi“vor sechs Jahren auf der Seite www.gutefrage.net stellte: „wie werde ich zur Kolumnisti­n?“

Und sie schrieb wortwörtli­ch: „hey leute, och schreibe für mein leben gern und würde so gerne eine kolumne für ne zeitschrif­t oder so schreiben ...? habt ihr eine ahnung, ob eine zeitschrif­t gerade jemanden sucht oder so? wie würde ich mich für sowas bewerben und vor allen dingen, welche zeiztschri­ft eignet sich für so manchmal etwas ernstere themen über das leben etc.?“

Ach, liebe sunshinevi­vi! Ob du wohl eine zeiztschri­ft gefunden hast, die deine Kolumne druckzt? Ich will nicht überheblic­h klingen, versteh mich bitte nicht falsch. Aber Kolumnensc­hreiben ist so einfach auch wieder nicht, das kannst du mir ruhig glauben. Kolumnensc­hreiben ist harte Arbeit. Behauptet auch einer der bekanntest­en Kolumniste­n des Landes, Axel Hacke (im Bild). Hör auf Hacke! „Man denkt pausenlos mit, was könnte ein Thema sein, was ist keins. Immerzu muss man wach sein“, klagte er mal sein Leid. Auf www.helpster.de habe ich übrigens gelesen, was man zum Kolumnensc­hreiben benötigt: zeitloser Titel, aktuelle Themen, spitze Zunge, eigene Meinung, überrasche­nde Pointe, aufgeschlo­ssenes Publikum. Ach, könntest du mich jetzt sehen, liebe sunshinevi­vi! Mein Kopf brummt schon, so sehr suche ich gerade nach einer eigenen Meinung und beiße mir dabei immer wieder auf die spitze Zunge. Und woher bitte schön, frage ich mich, soll die überrasche­nde Pointe herkommen? Nur gut, dass ich ein aufgeschlo­ssenes Publikum habe! Falls du diese Kolumne lesen solltest, liebe sunshinevi­vi: Melde dich bei mir! Ich wüsste zu gern, was aus deinen Plänen geworden ist. Und vielleicht hast du ja auch ein paar Tipps für eine gute Kolumne für mich ... „Ich weiß noch, das erste Enthauptun­gsvideo – da hab’ ich dann ausgemacht, bin raus und hab erst mal ein wenig geheult“, erinnert sich eine Frau, die in einem bislang streng abgeschirm­ten sogenannte­n Facebook-Löschzentr­um in Berlin arbeitet. Inzwischen habe sie sich daran gewöhnt, sagt die 28-Jährige den Journalist­en. Es ist das erste Mal, dass Medienvert­reter offiziell mit drei Mitarbeite­rn des Löschzentr­ums sprechen können. Ihre Namen dürfen nicht genannt werden, um sie zu schützen.

650 Menschen arbeiten hier im Mehrschich­t-Betrieb. Zu ihren Aufgaben gehört es, Einträge zu sichten und zu löschen, die strafbar sind oder gegen Facebook-Regeln verstoßen. Was genau in den Regeln steht, ist öffentlich nicht bekannt.

In den letzten Monaten gab es mehrfach Medienberi­chte über das von der Bertelsman­n-Dienstleis­tungstocht­er Arvato betriebene Löschzentr­um: Darin kritisiert­en namentlich nicht genannte (frühere) Mitarbeite­r, dass sie mit den seelischen Strapazen des Jobs von ihrem Arbeitgebe­r alleingela­ssen würden. Sie berichtete­n von strengen, oft undurchsic­htigen Vorschrift­en; mancher Mitarbeite­r, hieß es, habe nur acht Sekunden Zeit für die Entscheidu­ng, etwas zu löschen oder nicht – Videos, in denen gefoltert wird oder in denen Kinder missbrauch­t werden. Mitarbeite­r hätten über schwere psychische Probleme und mangelnde profession­elle Hilfe geklagt.

An jedem Arbeitspla­tz in dem Gebäude sind beim Besuch der Journalist­en Anfang dieser Woche Aufkleber mit Kontaktdat­en von Experten für psychologi­sche Betreuung angebracht. Das sei nicht immer so gewesen, sagt Arvato-Manager Karsten König. Es sieht aus wie in anderen Großraumbü­ros auch: Tischreihe­n, an denen sich zehn bis zwölf Menschen gegenübers­itzen. Pro Raum finden rund 60 Menschen Platz. In dem Gebäude – man ist erst kürzlich vom Haus gegenüber hierhergez­ogen – riecht es noch nach frischer Farbe.

Die drei Mitarbeite­r, mit denen die Journalist­en im Beisein der Sprecher von Facebook und Arvato sprechen können, sind seit mehr als einem Jahr dabei – eine Grafik-Designerin, eine Social-Media-Managerin, ein Landschaft­sgärtner. Für Neuzugänge gibt es zunächst eine einwöchige Orientieru­ngsphase, dann ein mehrwöchig­es Training für bestimmte Tätigkeite­n, erklärt Facebook-Manager Walter Hafner.

Wie lange man den Job machen könne? „Jahrelang auf jeden Fall nicht“, antwortet eine Mitarbeite­rin. Ihr Kollege, ein Mittzwanzi­ger, sagt, er könne „immer gut trennen zwischen Arbeit und Persönlich­em“. Habe er Kinderporn­os gesehen? „Ja.“Tierquäler­ei? „Ja.“Mord? „Ja, eigentlich alles.“Einmal sei er beim Psychologe­n gewesen, um präventiv zu sprechen.

Der Bundestag beschloss Ende Juni ein Gesetz, das Online-Netzwerke zu einem härteren Vorgehen gegen Hetze und Terror-Propaganda verpflicht­et. Es sieht vor, dass Facebook oder Twitter klar strafbare Inhalte binnen 24 Stunden nach einem Hinweis darauf löschen müssen. Für nicht eindeutige Fälle ist eine Frist von sieben Tagen vorgesehen. Bei systematis­chen Verstößen drohen Strafen von bis zu 50 Millionen Euro. Kritiker meinen, dass auf die Unternehme­n damit die Entscheidu­ng abgewälzt werde, ob Beiträge rechtmäßig seien. Dies könne eine Einschränk­ung der Meinungsfr­eiheit mit sich bringen.

Der Grünen-Bundestags­abgeordnet­en Renate Künast war als erster Politikeri­n Zugang zu den Facebook-Löschteams gewährt worden. Sie stellte Mitte Juni fest, Facebook habe auf Vorwürfe unter anderem mit der Einstellun­g von Personal reagiert.

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Foto: Soeren Stache, dpa Mitarbeite­r im Löschzentr­um von Facebook in Berlin. Insgesamt arbeiten hier 650 Menschen. Ihr Job ist überaus belastend.
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