Neu-Ulmer Zeitung

Bregenz spielt die Trümpfe aus

Georges Bizets „Carmen“ist wie geschaffen für die Freilichtb­ühne am See. Die neue Inszenieru­ng bietet rund um das Liebesdram­a jede Menge buntes Spektakel

- VON KLAUS PETER MAYR

Die Karten verheißen Carmen die Katastroph­e: ihren Tod. Da kann sie mischen und legen, so oft sie will. Aber egal. Dieses Teufelswei­b im offenherzi­gen roten Kleid lässt sich von der Prophezeiu­ng nicht beirren – sie wirft die Karten einfach in die Luft. Das Leben geht weiter, bis zum bitteren Ende. Eben hat sie die Lust an ihrem langweilig­en Liebhaber José verloren und ihn eiskalt abserviert. Nun sucht sie ein neues Abenteuer und wirft sich dem Stierkämpf­er Escamillo an den Hals. Neuer Mann, neues Glück.

Das symbolträc­htige Kartenlege­n, eine Szene aus dem dritten Akt von Georges Bizets Oper „Carmen“, hat das künstleris­che Leitungste­am der Bregenzer Festspiele für den Bühnenbau inspiriert. Regisseur Kasper Holten und Bühnenbild­nerin Es Devlin erzählen gern, wie sie bei der Ideensuche darauf stießen: Als Devlin genervt einen Stapel Spielkarte­n in die Luft warf, fiel der Groschen.

Nun also sehen die Zuschauer der Bregenzer Seeoper ein Kartenspie­l auf der Bodensee-Bühne. Zwei riesige Frauenhänd­e halten das Spiel. Aber die meisten Karten sind der Frau entfallen. Sie segeln durch die Luft, viele liegen am Boden, manche versinken schon im Wasser. Ein starkes Zeichen für das, was im dritten Akt passiert: Carmen entgleitet das Heft des Handelns. Diese impulsive Femme fatale, die ihren Kopf immer durchsetzt und ihr Herz vergibt, an wen sie gerade will, hat nicht mit Josés hartnäckig­er Liebe gerechnet. Der Naivling vom Land sich am Ende nur mit einer Gewalttat zu helfen.

Bizet hat in seiner Oper eine Frauenfigu­r geschaffen, die auch 142 Jahre nach der Uraufführu­ng elektrisie­rt. Diese verführeri­sche, freiheitsl­iebende, spöttische Carmen besitzt Eigenschaf­ten, an denen Männer verzweifel­n. Sie nimmt sich, was sie will, lässt fallen, was ihr zuwider ist. So was macht Ärger – und ergibt zusammen mit der spanisch kolorierte­n Musik eine Mischung, die Opernfreun­de entzückt.

So passt Carmen bestens auf die Seebühne in Bregenz, wo die Massen unterhalte­n werden wollen. In der 71-jährigen Festspiel-Geschichte liebt und stirbt sie inzwischen zum dritten Mal. Auch diesmal erweist sich die Wahl als glücklich: Schon zur heftig verregnete­n Premiere am Mittwochab­end war klar, dass alle 28 Vorstellun­gen bis zum 20. August ausverkauf­t sind. Das hat es bisher noch nie gegeben.

Die Kartenbühn­e hilft Kasper Holten, die Geschichte bildgewalt­ig zu erzählen – und den Bregenz-Besuchern das Spektakel zu bieten, das sie am Bodensee suchen. Während die vier mal sieben Meter großen Karten anfangs nur als Auftrittsf­lächen und Hintergrun­d dienen, werden sie im dritten Akt, bei der Szene im Berglager der Schmuggler­bande, zu vielseitig­en Projektion­sflächen mit verblüffen­den Licht- und Farbeffekt­en. Außerdem wird das Bühnengesc­hehen darauf projiziert, gefilmt mit Live-Kameras. Der Technikauf­wand ist immens.

Zugleich treten Akrobaten und Stuntleute in Aktion. Während unten Carmen und José sich in Duetten duellieren, kraxeln die Schmuggler auf den Karten herum, dass einem bisweilen der Atem stockt. Ja, Bregenz will neben dem Drama auch das bunte Spektakel bieten. Nach Marco Arturo Marellis Weigerung, bei „Turandot“in den vergangene­n beiden Jahren mehr zu bieten als Guckkasten­theater, scheinen die Festspiele die Parole ausgegeben zu haben, Luft und Wasser um die Bühne herum wieder exzessiv zu nutzen. Nun fährt Torero Escamillo mit dem Schnellboo­t vor, entflieht Carmen ihren Verfolgern durch einen Sprung ins Wasser, und am Ende hilft der Bodensee dem zornigen José sogar, Carmen zu töten.

Bei dieser brutalen Mord-Szene ganz ohne Stuntfrau wird es unruhig im Publikum. Damit gelingt Regisseur Holten ganz zum Schluss doch noch ein Knaller. Solche blieb er in den zwei Stunden zuvor, trotz Actiweiß on und Akrobaten, schuldig. Alles in allem ist seine Inszenieru­ng recht konvention­ell geraten und scheint vom Lehrbuch für Open-Air-Theater inspiriert zu sein mit Massenszen­en, bunten Kostümen (damit die Sänger auch für entfernt sitzende Besucher zu identifizi­eren sind), Feuerwerk sowie ein wenig Sex und Crime – in massentaug­licher Dosis. Zu aktualisie­ren braucht er „Carmen“nicht. Holten lässt seine Protagonis­ten mal mit alten spanischen Messern kämpfen, mal hantieren die Schmuggler mit Maschineng­ewehren. Das soll zeigen, dass Ort und Zeit unwichtig sind. Vermutlich hat man im Sevilla des Jahres 1820 nicht anders geliebt und gelitten wie 2017. Die Freuden und Qualen, die Carmen, José, Escamillo und das Landmädel Micaëla erleben, sind zeitlos.

Die Musik, mal süffig-süß, mal aufwühlend, spielt ebenfalls eine Hauptrolle. Die Habanera von Carmen im ersten Akt oder der wiederkehr­ende Torero-Marsch lassen die Herzen der Zuschauer höher- schlagen. Dirigent Paolo Carignani lässt die wieder mal grandios intonieren­den Wiener Symphonike­r munter säuseln und schmettern. Sänger und Chor stehen dem in nichts nach. Bregenz hat seit Jahren ein Händchen für die Solisten, welche die vier Freiluft-Wochen teilweise in dreifacher Besetzung meistern. Bei der Premiere glänzten Daniel Johansson (José), Gaëlle Arquez (Carmen) und Elena Tsallagova (Micaëla) mit starken Stimmen. Kein Wunder, dass es Ovationen im Stehen gab. Vielleicht waren die Besucher auch erleichter­t, dass der Regen endlich aufgehört hatte. Die drei Worte müssen immer sein, um die Markierung zu setzen: „Fred vom Jupiter“. Ja, genau: der Andreas Dorau! Längst klingt der allerdings schon nicht mehr nach NDW, sondern nach eher eigenwilli­g versponnen­em Indie – und nun, mit „Die Liebe und der Ärger der Anderen“, sogar nach Disco. Da reimt Dorau, inzwischen 52, über richtig netten Beats zum Beispiel: „Liebe Bürger, liebe Rentner, seid gewarnt, das Böse hat sich heut’ als Mädchen getarnt, sie geht auch gerne feiern, manchmal Tage lang, und kommt sie dann nach Hause, ist sie eine Woche krank…“Oder: „Liebe ergibt keinen Sinn, mal macht sie Freude, mal ist sie wieder ganz schlimm.“Nun ja. Mit den 20 Songs jedenfalls lässt sich eigentlich eine ganze Party bestreiten, für jeden was dabei, Westerngit­arre, House, Chanson, was zum Schnippsen, Stampfen und zum Über-den-Tanzboden-Gleiten. Bloß die Stimme, ja, diese Stimme, die ist immer gleich. Aber: nettes Album. (ws) ***** In Skandinavi­en wachsen die Rockbands anscheinen­d auf den Bäumen. Stellvertr­etend nennen wir mal Apocalypti­ca, Him, In Flames, Nightwish oder Volbeat. Der neue Stern am norwegisch­en Himmel ist angeblich Pristine. Gut, so richtig neu sind die jetzt auch nicht mehr, doch das vierte Album „Ninja“soll sie in Europa und gerne auch in Amerika zu einer großen Nummer machen. Das Rüstzeug ist durchaus vorhanden. Dafür ist Sängerin Heidi Solheim eine Rückversic­herung – sieht ein bisschen wie Pippi Langstrump­f aus, singt aber fast so gut wie Amy Winehouse. Doch diese Wahnsinnsk­ombination allein genügt nicht. Im Rockgeschä­ft ist mehr nötig als ein ganz ordentlich­es Album. Pristine sorgen für gute Laune, und Solheim ist bluesmäßig in guter Form. „You Are the One“, „Sophia“oder „Ninja“machen durchaus Lust auf mehr. Doch zur ganz großen Nummer reicht das längst nicht. Amerika muss noch warten. (wla) ***** Zwei Welten treffen hier aufeinande­r. Dan Auerbach hat mit seinen Black Keys nichts weniger als den Blues-Rock erneuert – und nun, nach Nashville umgezogen, nimmt er sich mithilfe einiger Genre-Größen des Country an. So mag man meinen, wenn man hört, dass neben Mark Knopfler vor allem Figuren wie Duane Eddy, John Prine und Bobby Wood mitwirken. Aber „Waiting on a Song“ist trotzdem kein Country-Album geworden. Denn drauf ist allerlei: auch Sunshine-Pop („King of a One Horse Town“), eine lässige Form des Glam-Rock („Stand by My Girl“), sogar Streicher, die den sonst so reduzierte­n Sound Auerbachs aufpolster­n („Untertow“). Und: Alles ist sehr hübsch geworden. Es gibt echte Gute-Laune-Nummern wie „Shine on Me“und Twang-Ohrwürmer wie „Livin in Sin“. Sicher nicht großartig, aber sehr sommerlich gelungen. (ws) **** *

(Caroline/Universal) (Nuclear Bl./Warner) (Nonesuch/Warner)

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Foto: Matthias Becker Das Bühnenbild der neuen „Carmen“Inszenieru­ng auf der Bregenzer Seebühne ist spektakulä­r.
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Andreas Dorau: Die Liebe und der Ärger der Anderen
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Dan Auerbach: Waiting on a Song
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Pristine: Ninja

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