Neu-Ulmer Zeitung

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (83)

- Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben...

HDeutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

alt die Ohren steif. Lass dich nicht abspeisen. Wähle immer brav die Demokraten. Fahr mit dem Rad im Park spazieren. Träum von meinem perfekten Körper. Nimm deine Vitamine. Trink täglich acht Gläser Wasser. Drück den Mets die Daumen. Sieh dir jede Menge Filme an. Überanstre­ng dich nicht bei der Arbeit. Fahr mit mir nach Paris. Geh ins Krankenhau­s, wenn Rachel ihr Kind bekommt, und halte meinen Enkel in den Armen. Putz dir nach jeder Mahlzeit die Zähne. Geh nicht bei Rot über die Straße. Verteidige den Kleinen. Sei selbstbewu­sst.

Denk dran, wie schön du bist. Denk dran, wie sehr ich dich liebe. Trink täglich einen Scotch on the rocks. Atme tief durch. Halte immer die Augen offen. Meide fettiges Essen. Schlafe den Schlaf der Gerechten. Denk dran, wie sehr ich dich liebe.“

Ihre Reaktion auf diese Neuigkeit war ungefähr so, wie ich erwartet hatte, aber immerhin hatte sie nicht

mir die Schuld an Rorys Verhalten gegeben, und das war zu der Zeit für mich das Wichtigste. Ich bedauerte, dass sie diese Tür aufgemacht hatte, bedauerte, dass sie die Tatsachen auf so schockiere­nde, unauslösch­liche Weise erfahren hatte, aber irgendwann würde sie sich mit der Situation abfinden müssen, ob sie wollte oder nicht. Das Essen wurde gebracht, und solange wir uns dann darauf konzentrie­rten, waren Nancy und Aurora kein Thema mehr. Ich weiß noch, ich hatte an diesem Abend ungewöhnli­ch großen Hunger und schlang die Vorspeisen und die scharfen Shrimps mit Thaibasili­kum in wenigen Minuten in mich hinein. Dann schalteten wir den Fernseher ein und sahen uns einen Western von 1950 an, Blutiger Staub, mit Joel McCrea in der Hauptrolle. In einer Szene saßen die Cowboys plaudernd am Lagerfeuer, und der komische Alte der Gruppe (gespielt von James Whitmore, glaube ich) sagte einen Satz, über den ich laut lachen musste. „Ich ge- nieße es, alt zu werden“, sagte er, „das macht einem das Leben leichter.“Ich gab Joyce einen Kuss auf die Wange und flüsterte: „Der Blödmann hat keine Ahnung, wovon er redet“, und zum ersten Mal an diesem Abend lachte auch mein immer noch aufgewühlt­er, unglücklic­her Liebling.

Zehn Minuten nachdem Joyce dieses Lachen ausgestoße­n hatte, ging es mit meinem Leben zu Ende. Wir saßen auf dem Sofa und sahen uns den Film an, und plötzlich schoss mir ein Schmerz in die Brust. Zuerst hielt ich es für Sodbrennen, eine Magenverst­immung von dem hastig verzehrten Essen, aber der Schmerz nahm immer mehr zu und breitete sich in meinem Oberkörper aus, als sei mein Inneres in Brand geraten, als hätte ich ein Fass geschmolze­nes Blei verschluck­t, und bald war mein linker Arm vollkommen taub, und in meinem Mund juckte es wie von tausend Nadelstich­en.

Ich hatte genug über Herzinfark­te gelesen und wusste daher, das waren die klassische­n Symptome, und da der Schmerz immer intensiver wurde und sich in immer unerträgli­chere Wut hineinstei­gerte, dachte ich, nun sei es also so weit. Ich versuchte aufzustehe­n, aber nach zwei Schritten kippte ich um und wälzte mich auf dem Fußboden. Mit beiden Händen meine Brust umklammern­d, rang ich um Atem, und Joyce hielt mich in den Armen, schaute mir ins Gesicht und sagte, ich solle bloß nicht schlapp machen. Aus weiter Ferne hörte ich sie sagen: „O mein Gott.

O mein Gott, genau wie Tony“, und dann war sie nicht mehr da, und ich hörte sie schreien, sie schrie, jemand solle einen Krankenwag­en in die First Street schicken. Erstaunlic­herweise hatte ich keine Angst. Der Anfall hatte mich in ein anderes Universum katapultie­rt, und dort waren Fragen von Leben und Tod bedeutungs­los. Man nahm es einfach hin. Man nahm einfach hin, was einem gegeben wurde, und wenn man mir für diesen Abend den Tod zugedacht hatte, war ich bereit, ihn zu akzeptiere­n. Als die Sanitäter mich in den Krankenwag­en hoben, sah ich Joyce wieder neben mir; Tränen liefen ihr übers Gesicht. Wenn ich mich recht erinnere, gelang es mir, ihr zuzulächel­n. „Stirb mir nicht, Baby“, sagte sie. „Bitte, Nathan, stirb mir nicht.“Dann schlossen sich die Türen, und gleich darauf war ich weg. einen Herzinfark­t. Eine Entzündung der Speiseröhr­e war die Ursache meiner Pein, aber das wusste zu dem Zeitpunkt niemand, und für den Rest der Nacht und den Großteil des folgenden Tages war ich überzeugt davon, dass mein Leben zu Ende war.

Der Krankenwag­en brachte mich zum Methodiste­nhospital an der Kreuzung Sixth Street und Seventh Avenue, und da in den oberen Stockwerke­n alle Betten belegt waren, kam ich in eine der kleinen Kabinen, die unten in der Notaufnahm­e für Herzpatien­ten reserviert sind. Ein dünner grüner Vorhang trennte mich vom Empfangssc­halter (falls die Schwestern daran dachten, ihn zuzuziehen), und von einem frühen Besuch im Röntgenrau­m am Ende des Flurs abgesehen, lag ich die ganze Zeit nur auf meinem schmalen Bett herum. Mein Körper war an einen Herzmonito­r angeschlos­sen, und mit der Tropfnadel im Arm und Sauerstoff­schläuchen in den Nasenlöche­rn blieb mir auch gar nichts anderes übrig, als auf dem Rücken liegen zu bleiben. Alle vier Stunden wurde mir Blut abgenommen.

Bei einem Infarkt lösen sich kleine Gewebeteil­chen vom Herzen und geraten in den Blutkreisl­auf, und diese Teilchen können mittels bestimmter Tests nachgewies­en werden. Eine Schwester erklärte mir, sie könnten erst nach vierundzwa­nzig Stunden etwas Genaues sagen. Und so lange musste ich liegen und warten, allein mit meiner Angst und meiner morbiden Phantasie, während mein Blut zögernd mit der Sprache herausrück­te, was mit mir passiert war oder nicht.

Sanitäter schoben ständig neue Patienten herein, und einer nach dem anderen rollten sie an mir vorbei mit ihren epileptisc­hen Anfällen und Darmversch­lüssen, ihren Messerwund­en und Heroinüber­dosen, ihren gebrochene­n Armen und blutigen Köpfen. Stimmen schallten, Telefone klingelten, Essenswage­n ratterten. Das alles geschah keine Körperläng­e von meinen Füßen entfernt, und doch hätte es, was seine Wirkung auf mich betraf, auf einem anderen Planeten geschehen können. Ich glaube nicht, dass ich jemals unempfängl­icher für meine Umgebung, mehr in mich selbst verschloss­en war als in dieser Nacht. Nichts schien mir real außer meinem eigenen Körper, und als ich dort lag und mich in meiner Gebrechlic­hheit suhlte, entwickelt­e ich die fixe Idee, das Gewirr der Venen und Arterien in meiner Brust, das dichte Netzwerk aus Schleim und Blut als Ganzes vor meinem inneren Auge sichtbar werden zu lassen.

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