Die Revolution, die aus der Höhle kam
In loser Folge stellen wir die Plätze auf der Alb vor, die jüngst den Welterbetitel der Unesco erhielten. Teil eins beleuchtet den Hintergrund: die Jäger und Sammler der Eiszeit
Sechs verhältnismäßig kleine Höhlen in den Flusstälern von Ach und Lone am Südostrand der Schwäbischen Alb sind am 9. Juli der Welterbeliste der Unesco hinzugefügt worden. Im Grunde aber geht es gar nicht um diese Hohlräume in den Talhängen. Zu sehen ist in ihnen ja auch nichts Besonderes. Denn das lagert in den Museen der Region – mehr als 40 000 Jahre alte handgeschnitzte Kunstwerke aus Elfenbein.
Der Unesco-Ehrentitel gilt denn auch nicht allein den Höhlen. Vielmehr verweist er zurück in eine Zeitenwende, wie sie dem heutigen Menschen schier unvorstellbar erscheinen muss. Da erfindet eine Horde ungebildeter nomadisierender Jäger und Sammler die Kunst. Der moderne Mensch (Homo sapiens), der vor gut 50 000 Jahren die Donau aufwärts nach Westeuropa zog und die Nachfolge des Neandertalers antrat, hatte nichts. Er besaß, was er am Körper trug. Er formte Speere, um Mammut, Wisent, Bär zu erlegen und sich so die tägliche Nahrung zu sichern. Er zog dem Wild hinterher, sobald die Herden sich neues Weideland suchten. Er hauste in zugigen Höhlen, die nur mäßigen Schutz gegen Wind und Wetter boten. Er kleidete sich in Tierfelle. Er lebte in und mit der Natur und ließ es geschehen – bis vor gut 40 000 Jahren, am Südrand der Schwäbischen Alb, in den Flusstälern von Ach und Lone, ein neues Zeitalter anbrach – von heute aus betrachtet eine Kulturrevolution.
Irgendeiner aus der kleinen Schar der Eiszeitmenschen, deren Zahl in der Umgebung Blaubeurens heute auf höchstens dreißig Köpfe veranschlagt wird, griff sich einen Feuersteinkeil, und fing an, Nutzloses zu schnitzen.
Alles, was er bis dahin gefertigt hatte, diente dem nackten Überleben. Nun bastelte er etwas, das weit darüber hinaus wies. Der Mensch machte sich daran, etwas zu erfinden – einfache Dinge zunächst, bald aber auch Werkzeuge, später Kunst, auch mythische Figuren und Schmuck, sogar Musikinstrumente.
Aus dem Nichts heraus entstand Neues. Irgendeiner hat irgendwann den Anfang gemacht – eine Kulturleistung ohne Beispiel. Was später kam, war eigentlich immer nur Wiederholung oder Nachbesserung.
Die Eiszeitleute mussten mobil sein. Sie lebten vom Sammeln und vom Jagen, zogen umher mit den Herden von Mammut und Rentier. In der Folge blieben ihre Höhlen durchaus mal ein halbes Jahrtausend unbewohnt, ehe eine andere Großfamilie vorübergehend einzog. Da herrschte zwar ein ständiges Kommen und Gehen, aber eben in großen Zeitabständen. Daraus erklären sich die unterschiedlichen Bodenschichten der Höhlen, in denen die Archäologen seit Jahrzehnten graben und finden. Verständlich wird
auch, dass Schnitzereien wie die „Venus vom Hohle Fels“oder die Flöte vom Geißenklösterle oder der Ulmer „Löwenmensch“vom Lonetal, zurückgelassen wurden. Die Menschen konnten wegen fehlender Transportmittel wenig mitnehmen auf ihren weiten Wanderungen. Das Rad war noch nicht erfunden. Auch werden Schnitzarbeiten, die heute als kostbare Kunstwerke bestaunt werden, in der Eiszeit eher dem alltäglichen Gebrauch oder einem bestimmten Ritual gedient haben. Änderten sich die Bedürfnisse und Vorstellungen, verlor das zugehörige Gerät seinen Wert und blieb zurück. Heute sind sie die ältesten bekannten Kunstwerke der Menschheitsgeschichte.
Dies zu begreifen muss der heutige Mensch sich vorstellen, was damals im Kopf der Steinzeitleute passierte, als sie in Höhlen und Grotten die weltweit einzigartige Eiszeitkunst entwickelten. Um diesen ungeheuerlichen Vorgang zu begreifen, muss der Mensch erst mal den Kopf freibekommen. Er muss ablegen, was er mit sich herumschleppt an Bildung, Wissen, Information,
was Hunderte Generationen zuvor angehäuft haben. Nichts davon besaß der Eiszeitmensch. Das Verständnis für diese Zeitenwende zu
bewahren, gab letztlich den Ausschlag, die kahlen Höhlen an Lone und Ach dem Menschheitsgedächtnis anzuvertrauen. Die Ausstellung „Wimmelbücher für Klein und Groß“ist noch bis Samstag, 19. August, in der Stadtbücherei in Blaubeuren zu sehen. Sie zeigt die Themenvielfalt der Wimmelbücher. (az)