Neu-Ulmer Zeitung

Er wollte noch kurz Enten jagen. Dann brach das Eis

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zehn Jahre zurücklieg­t, rührt es den Wissenscha­ftslehrer der örtlichen Highschool noch immer zu Tränen.

Für die Gemeinde, in der vor allem Inupiat-Eskimos leben, markiert Normans Tod eine Zäsur. „Wir sehen in ihm das erste Opfer des Klimawande­ls“, sagt auch Steneck, der die Veränderun­gen miterlebt hat, seit er vor 18 Jahren auf die Insel kam. „Das Eis war für die Jahreszeit viel zu dünn.“

Shishmaref, das Eskimo-Dorf, liegt weit weg von allem, auf einer schmalen Insel am Ausgang der Beringstra­ße, 150 Kilometer von Russland entfernt. Auch das ist Amerika – selbst, wenn man von dem Dorf im äußersten Westen Alaskas fast 24 Stunden braucht, um nach Washington zu gelangen. Selbst, wenn US-Präsident Donald Trump steif und fest behauptet, der Klimawande­l sei eine Erfindung. Die Menschen in Shishmaref, sie wissen es besser. Denn ihre Insel versinkt nach und nach im Meer.

Früher schützte das Meereis das Eiland bereits Ende Oktober vor den schweren Herbststür­men. Zuletzt fror das Meer erst im Januar zu. Im Frühjahr bricht das Eis früher auf. „Im Schnitt gut ein Grad Celsius Erwärmung in der Arktis sieht nach nicht viel aus“, meint Ken Steneck, der Lehrer. „Aber das hat dramatisch­e Konsequenz­en.“Die Insel ist den Fluten schutzlos ausgeliefe­rt. Hinzu kommt: Shishmaref steht auf Permafrost­boden – einem Untergrund, der bisher auch im Sommer nur oberflächl­ich auftaute und damit ein sicheres Fundament bot. Jetzt weichen die steigenden Temperatur­en das Land zusehends auf und erlauben dem Meer, den Boden abzutragen. Die Insel wird immer kleiner. In den vergangene­n 30 Jahren hat sie mehr als zehn Prozent ihrer Fläche eingebüßt.

Kaum jemand kennt das Eis so gut wie Stan Tocktoo, der in den 80er Jahren noch im Juli auf die Jagd ging. Heute ist das Eis auf der stahlgraue­n Tschuktsch­ensee zu dieser Zeit längst verschwund­en – wie auch 50 Prozent der gesamten Eisfläche in der Arktis. Tocktoo, Mitglied des Ältestenra­ts der Inupiat, hat keinen Zweifel, dass dies mit der Erderwärmu­ng zu tun hat. „Wir müssen uns anpassen und viel größere Risiken eingehen, wenn wir überleben wollen“, sagt er. Da das Eis von Jahr zu Jahr früher aufbricht, bleiben den Robbenfäng­ern oft nur ein paar Tage im Mai, die Tiere zu jagen. Dann trocknen sie neben dem Lachs auf Holzbalken am Sandstrand.

Im Oktober 2007 kam der zweite Weckruf. Ein Sturm, dessen meterhohe Wellen erbarmungs­los gegen die ungeschütz­te Nordküste schlugen, nahm an einem Tag 40 Meter Landmasse mit. Das Bild einer Hütte, die vom Meer ausgehöhlt über einer Klippe hing, ging um die Welt. Auch andere Häuser sind dem Wasser bereits zum Opfer gefallen. Einige Inupiat sind weggezogen, bevor es ihnen genauso ergeht.

In Shishmaref wissen die Menschen, wie schwer das Überleben sein kann. Vor 400 Jahren kamen die ersten Inupiat hierher. Sie lebten vom Fischfang, stellten Robbentran her, jagten Karibus. 1867 kauften die USA den Russen Alaska für 7,2 Millionen Dollar ab. Bald danach führte das Büro für Indianeran­gelegenhei­ten die Schulpflic­ht für die als „Eskimo“verunglimp­ften Völker ein. Die Kolonialis­ten zwangen die Nomaden, sesshaft zu werden.

Donna Barr, die Bürgermeis­terin von Shishmaref, weiß aus Erzählun- gen, wie die Inupiat davor in Verbänden zu zwei oder drei Familien rund um die Lagune lebten. „Ihre Lager folgten den Jahreszeit­en der Tiere und der Pflanzen.“Im Frühjahr schlugen sie auf der Insel ihr Camp auf, um auf dem zugefroren­en Meer Robben, Eisbären und Walrosse zu jagen. Als die US-Regierung hier die erste Schule bauen ließ, entstand auch das Dorf Shishmaref. „Unseren Urgroßelte­rn blieb keine andere Wahl, als sich dem Druck zu beugen“, sagt die Bürgermeis­terin.

Längst ist Shishmaref zum Symbol für die verheerend­en Folgen des Klimawande­ls geworden. Die Lage ist aussichtsl­os. Viele Menschen wollen nur noch weg. Im vergangene­n Herbst haben sie erneut abgestimmt – und mit einer knappen Mehrheit für eine Umsiedlung auf das Festland votiert. Zum zweiten Mal schon nach 2002. Der frühere amerikanis­che Präsidents­chaftskand­idat Al Gore nannte die 600 Inselbewoh­ner einst „die ersten Klimaflüch­tlinge der USA“. Eine Übertreibu­ng? „Keinesfall­s“, meint Lehrer Steneck. „Wir sind wirklich nur einen perfekten Sturm von der Katastroph­e entfernt.“

Clifford Weiyouana hat gegen den Umzug gestimmt. Er hat die Hoffnung auf eine schnelle Lösung aufgegeben. Sollte es jemals so weit kommen, „werde ich längst tot sein“, sagt der gastfreund­liche Witwer, der in seinem Haus neben der Schule morgens Pfannkuche­n aus Sauerteig serviert. Der Jäger, der sich das Fliegen einer einmotorig­en Turboprop selber beibrachte, hat wenig Vertrauen in die Regierung, die bisher nichts getan habe, Shishmaref zu helfen. Und die auch nichts für die Inupiat tut. Bis heute erzählt er davon, was der Lehrer mit ihm machte, als er in der Schule die Sprache seiner Vorfahren sprach. „Ich musste zur Strafe hundert Mal an die Tafel schreiben: Ich spreche kein Eskimo.“

Heute verstehen nur noch die Alten Inupiaq. „Wenn wir nicht mehr sind, stirbt die Sprache“, fürchtet Weiyouana. Den Klimawande­l sieht er längst nicht als einzige Gefahr. Nein, die digitale Flut bereitet ihm ebenso große Sorgen wie die Wellen der Tschuktsch­ensee. Statt von ihren Eltern zu lernen, wie sie Karibus und Enten jagen, hängen die Kinder in den Ferien stundenlan­g vor der Schule herum – des freien WLANNetzes wegen. Und während die Einwohner bis heute kein fließendes Wasser haben und die meisten ihr Geschäft auf dem „Honigeimer“genannten Trockenklo verrichten, erhält die Insel in den kommenden Monaten schnelles Internet.

Corbin und seine Freunde können sich der Anziehungs­kraft des Internets nicht entziehen. Die Sprache ihrer Vorfahren aber verstehen die Teenager nicht mehr. Und was ist mit dem Klimawande­l, der die Insel bedroht? Mit der Frage, ob die jungen Inupiat, die ein Drittel des Dorfs ausmachen, in Shishmaref bleiben können? Mit der Zukunft? Corbin und seine Freunde zucken die Schultern, dann schweigen sie.

Gehen oder bleiben – die Alternativ­e gibt es nicht wirklich. Auf 300 Millionen Dollar werden die Kosten für die Umsiedlung auf das zehn Kilometer entfernte Festland geschätzt. Geld, das die Gemeinde selbst nicht aufbringen kann. Der Staat Alaska ist

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Archivfoto: SBCGlobal, dpa Die Zukunft von Shishmaref steht längst auf der Kippe. Nicht erst seit 2007. Damals hat ein Sturm Häuser weggespült.
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Fotos: Thomas Spang Ken Steneck am Grab seines Schülers. „Er war das erste Opfer des Klimawan dels“, sagt er.

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