Tabletten statt Tanzen
Michael Diederich war erst acht Jahre alt, als er mit HIV angesteckt wurde. Nun will er anderen Erkrankten Mut machen. Wie er selbst mit der Krankheit lebt, erzählt er Schülern bei einer Aktion der Aids-Hilfe Ulm
Braune wuschelige Haare, sportliche Kleidung und ein breites Lächeln: Vom Äußeren her scheint der Ulmer Michael Diederich wie jeder andere zu sein. Doch in sich trägt der 41-Jährige ein tödliches Virus: HIV. Als er 17 Jahre alt war, erkrankte er an Aids (s. Infokasten). Eine unbeschwerte Jugend sieht anders aus. Beim HIV-Mitmach-Parcours, organisiert von der Aids-Hilfe Ulm, hatten Schüler aus der Region die Chance, mit dem Erkrankten zu sprechen. Und nutzten diese auch: Die interessierten Jugendlichen stellten Diederich viele Fragen zu seinem Leben mit der Krankheit.
Aids – die vier Buchstaben reichen aus, um schaurige Bilder hervorzurufen. Viele Menschen denken dabei an Homosexualität, unhygienischen Zuständen in Dritte-WeltLänder oder Prostitution. Der 41-jährige Diederich steckte sich bereits mit acht Jahren an. Ein verunreinigtes Medikament trägt die Schuld. Der Ulmer ist Bluter. Bei der Erbkrankheit ist die Blutgerinnung gestört. Wenn er sich schneidet, dann kann er selbst bei kleinen Wunden verbluten. Mit Bluttransfusionen wird der fehlende Faktor acht verabreicht.
Doch in den 80er und 90er Jahren ging unter den Blutern die Angst um. Das Blut, das die Erkrankten erhielten, war verunreinigt. „Die Pharmakonzerne wussten das auch“, ist Diederich überzeugt. „Und trotzdem haben sie das konta- Blut nicht erhitzt.“So hätten die Industrie die Viren abtöten können. Mit acht Jahren wurde er mit HIV angesteckt. Mit zehn erfuhren die Eltern davon. Erst zwei Jahre später erzählten sie es Diederich. „Mit zwölf habe ich meinen Eltern erzählt, dass ich mich verliebt habe“, erzählt der Ulmer den Jugendlichen. Zwar war er nicht mit dem Mädchen zusammen, die Eltern sahen sich aber gezwungen, ihrem Sohn nun von seiner HIV-Erkrankung zu erzählen. Ob er noch mit dem Mädchen zusammenkam, fragt einer der Schüler. „Nein, ich war in den ersten Monaten unter Schock“, erinnert sich Diederich. Die Schulzeit blieb ihm in keiner guten Erinnerung. „Ich war ein Schauspieler. Ich war immer gut drauf und habe viel gelacht“, erzählt er den Schülern. Doch in seinem Inneren sah es anders aus. Der Ulmer hatte mit Selbstmordgedanken zu kämpfen. Anvertrauen konnte er sich niemandem – weder Freunden noch Lehrern. Denn die Vorurteile und Ängste von anderen waren groß. Abgeschreckt hat ihn ein Fall an seiner Schule. Ein Freund hatte sich ebenfalls durch eine verunreinigte Bluttransfusion mit HIV angesteckt. „Er erzählte es einem Vertrauenslehrer“, sagt der Ulmer. Doch was der Jugendliche damit auslöste, hatte er nicht geahnt. Der Vertrauenslehrer gab die Informatiminierte on an den Rektor weiter. Dieser sah sich dazu verpflichtet, die Erkrankung des Jugendlichen den Eltern der Schüler mitzuteilen. Die drohten damit, dass sie ihre Kinder von der Schule nehmen, wenn nicht der HIV-Erkrankte selbst geht. „Mein Freund musste dann die Schule verlassen“, erzählt der Ulmer. Kurz darauf starb der Junge. „Er hat einfach den Kampf aufgegeben.“
Mit 18 Jahren begann Diederich eine Ausbildung zum Bürokaufmann. Diese musste er aber abbrechen. In kürzester Zeit erkrankte er an zwei Lungenentzündungen. „Der Arzt sagte zu mir: ,Wenn du so weitermachst, dann wirst du noch maximal sechs Monate leben’“. Da kapierte Diederich, dass er etwas in seinem Leben ändern muss. Er verließ die Berufsschule, reiste viel herum. Doch der ganze Tag drehte sich um die Tabletteneinnahme. Mit Anfang zwanzig musste er täglich 26 Medikamente schlucken.
Erst mit 21 Jahren vertraute sich Diederich seinen Freunden an. „Wie haben die reagiert?“, fragt eine Schülerin aus dem Publikum. „Sehr gut“, sagt er mit einem Lächeln. Manche Freunde haben ihm Fragen zu der Krankheit gestellt, andere fuhren ihm in Notfall sogar ins Krankenhaus, erzählt er. „Ohne sie würde ich heute nicht hier sitzen.“Mit der Liebe war es nicht so einfach. „Ich hatte vor sieben Jahren eine Freundin. Sie hatte mit der Krankheit kein Problem, aber ihre Mutter ein sehr großes“, erzählt der 41-Jährige den Schülern. An Weihnachten wurde sie von Familienfesten ausgeladen. Die Familie drohte der alleinerziehenden Mutter auch mit dem Jugendamt, erinnert sich Diederich. Das Paar entschloss sich daher, getrennte Wege zu gehen. „Ich wollte schon immer eine Familie gründen, Kinder haben. Aber immer mehr habe ich gemerkt, dass das nicht möglich ist.“Oft habe er sich gefragt, wieso er überhaupt auf der Welt ist, „wenn ich selbst nichts dazu beitragen kann?“. Dann habe er angefangen, ehrenamtlich zu arbeiten. Erst im Seniorenheim, seit vier Jahren nun für die Aids-Hilfe in Ulm. „Die Arbeit gibt mir Kraft und Mut“, sagt er. Jetzt will er mit seiner Arbeit anderen Mut machen.