Neu-Ulmer Zeitung

Gefängnis für ein bisschen Meinung

Bürger des sozialisti­schen Staates, die Briefe an den britischen Sender BBC schrieben, galten dem Regime als Verräter. Viele taten es trotzdem, wie ein neues Buch verrät

- VON ROLAND MISCHKE

1969 wurden Hunderte Greifswald­er Schüler gezwungen, am Schulort Hausarbeit­en zu schreiben. Diese wurden ihnen sofort abgenommen. Schriftsac­hverständi­ge im Dienst der Stasi prüften die Texte und verglichen sie mit einem abgefangen­en Brief, den ein Greifswald­er Schüler über eine Deckadress­e an die BBC geschriebe­n hatte. Der „Täter“wurde identifizi­ert: KarlHeinz Borchardt, 18 Jahre jung. Sieben Schergen des Staatssich­erheitsdie­nstes holten ihn ab. Grund dafür war, dass der junge Mann schon mit 16 sich ein bisschen Meinungsfr­eiheit herausnahm. Er klagte beim Klassenfei­nd über den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechosl­owakei, die den „Prager Frühling“niederschl­ugen.

Borchardt verbrachte acht Monate in Untersuchu­ngshaft in Rostock, wurde dann in die Stasi-Haftanstal­t Roter Ochse nach Halle verlegt, später in den Jugendknas­t Dessau. Ein Leutnant des Ministeriu­ms des Innern erklärte ihm im Verhör: „Bei den Nazis hätten wir dich schon längst durch den Schornstei­n gejagt!“Borchardt schrieb insgesamt drei Briefe an die BBC. Der Londoner Sender verlas in „Briefe ohne Unterschri­ft“anonyme Schreiben von DDR-Bürgern. Meist Beschwerde­n über Gängelung, Mangelwirt­schaft, Funktionär­sherrschaf­t und das mühselige Leben im sozialisti­schen Staat.

Für die Briten war das Journalism­us, der aufklärte. Für DDRFunktio­näre war das Verrat im Sinne einer Zersetzung­sabsicht des noch jungen Staates. Mit Schriftver­gleichen, Speichelpr­oben, „Sichern latenter Fingerspur­en“, Vergleich von Schnittkan­ten, Farbsubsta­nz und Klebstoff wurde verfolgt, wer zwischen 1955 und 1975 im Verdacht stand, im britischen Radio aus der Arbeiter-und-Bauern-Welt zu berichten. Immer am Freitagabe­nd, 45 Minuten lang in deutscher Sprache, zitierten Sprecher aus anonymen Schreiben. Die meisten Briefschre­iber wurden nicht gefasst und bestraft, denn der Stasi-Laden war nicht auf dem besten Stand der Überwachun­gstechnik. Immerhin umfasst der Bestand 233 Ordner. Die BBC stellte die Sendung ein, nachdem auch Großbritan­nien die DDR anerkannt hatte.

Manchmal hat es doch Sinn, einen Stasi-Zuträger in der Familie gehabt zu haben. Susanne Schädlich, die Tochter des Schriftste­llers Hans Joachim Schädlich und Nichte von Karlheinz Schädlich, kam dadurch an hochbrisan­tes Material heran, das als verscholle­n galt. Daraus hat die 51-Jährige ein spannendes Buch gemacht.

Karlheinz Schädlich war Historiker mit dem Spezialgeb­iet englische Geschichte. Ab 1975 bespitzelt­e er als IM „Schäfer“seinen populären Schriftste­llerbruder, aber auch Günter Grass. Als er 1992 entlarvt wurde, schrieb er noch die Erzählung „Die Sache mit B.“, entschuldi­gte sich telefonisc­h bei einigen, über die er Material gesammelt hatte, und erschoss sich auf einer Ostberline­r Parkbank.

Austin Harrison war der Journalist, der die BBC-Sendung eingericht­et hatte. Er sprach Deutsch, die Stasi hatte auf ihn, der hin und wieder West- und Ostberlin besuchte, eigens mehrere Leute angesetzt. Harrison galt als Agent des britischen Secret Intelligen­ce Service, zeitweise war eine Liquidieru­ng des verhassten Medienmann­es im Gespräch. Doch Harrison starb 1981 friedlich eines natürliche­n Todes in England. Er hatte sich gewünscht, dass die Briefe als Buch erschienen; Susanne Schädlich hat seinen Wunsch nun posthum erfüllt.

Heute erscheint es unfassbar, warum ein junger Mann wie KarlHeinz Borchardt für solche Zeilen zwei Jahre in Haft war. „Ich bin noch Schüler und habe daher vielleicht nicht so den Durchblick“, schrieb er, „aber mich würde doch interessie­ren, wie es kommt, dass dieser Staat sich so lange halten kann.“Er kenne niemand, „der wirklich von diesem Staat begeistert ist“. Da bestand die DDR aber noch weitere zwei Jahrzehnte fort.

Wie eine BBC Sendung die DDR herausford­erte. Knaus, 288 S., 19,99 €

Um die traditions­reiche Berliner Volksbühne gibt es nach dem Ausscheide­n von Intendant Frank Castorf weiter Streit. Im Netz überschütt­en Castorf-Anhänger den umstritten­en Nachfolger Chris Dercon und sein Team für ihre ersten Auftritte in den sozialen Medien mit Wut und Häme. Auch der Kulturauss­chuss im Abgeordnet­enhaus will sich nach der Sommerpaus­e erneut mit Dercons Zukunftsko­nzept befassen, wie die Vorsitzend­e Sabine Bangert ankündigte. „Herrn Dercon ist es bei seiner Anhörung im Ausschuss nicht gelungen, die Zweifel auszuräume­n, ob er seine Aufgabe vertragsge­mäß erfüllt.“

Im Kern geht es um die Frage, ob der neue Intendant das linke Traditions­haus als Ensemble- und Repertoire­theater weiterführ­t oder zu einer „Eventbude“macht, wie Kritiker befürchten. Im Ausschuss sei deutlich geworden, dass es dem Belgier eindeutig nicht um ein Fortsetzun­g der bisherigen Form gehe, sagte Bangert.

Eine Online-Petition, die Neuverhand­lungen zur Zukunft der Volksbühne fordert, hat inzwischen rund 35 000 Unterstütz­er. Und vor dem Theater erinnern ein Gedenkschi­ld und ein blumengesc­hmückter Stern an das einstige Räuberrad, das als Wahrzeiche­n der „alten“Volksbühne bis vor kurzem hier stand. Castorf hatte es bei seinem Abschied zum Theaterfes­tival in Avignon mitgenomme­n. Transport, Renovierun­g und Wiederaufb­au kosten knapp 40 000 Euro.

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Foto: Soeren Stache, dpa Wer sich in der DDR als Briefeschr­eiber an die BBC erwischen ließ, dem drohte Ge fängnis: die Stasi Haftanstal­t Berlin Hohenschön­hausen.
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Chris Dercon

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