„Beeren und Pilze sind kein Survival Food“
Vorgänger unserer Möhren. Die hat einen schwarzen Punkt in der Dolde“, sagt Heike Koch. Mit den Fingernägeln kratzt sie die Erde ab und hält mir die Kinderfingerdicke Wurzel unter die Nase, die wirklich nach Karotte riecht und etwas nach Karotte schmeckt. Gekocht soll das eine sättigende Mahlzeit sein.
Ich versuche also, mit dem Grabestock Wilde Möhren zu ernten. Die erste flutscht förmlich aus dem feuchten Boden. Die zweite will nicht. Der Stängel bricht ab, die Wurzel bleibt in der Erde stecken. Ich halte sie schon in meinen Händen, ziehe, spreche mit ihr, „komm schon, hab dich gleich, noch ein Stückchen“– Heike Koch sieht mir zu und sagt: „Siehste, jetzt weißte, wie das mit dem Ehrgeiz ist.“Sie hat recht. Ich lasse die Wurzel stecken und stapfe hinter ihr durch das nasse Gras, dessen jungen Triebe auch essbar wären. Vorbei an ein paar Melde-Pflanzen (schmecken mild), immer weiter, über eine Straße und eine andere Kuhwiese hinauf. Langsam bekomme ich Kopfschmerzen. Ob’s am leeren Magen liegt, am Wetter, am Koffeinentzug oder am ungewohnten Blattwerk im Bauch?
Unter ein paar großen Bäumen spannt Stefan Koch eine Zeltplane als Regenschutz. Mindestens genauso schnell hat er mit Holz aus seinem Rucksack ein Feuer gemacht und Wasser gekocht, in das wir nun die kleingezupften Blätter und die Blütendolden werfen. Auf einem zu einem Suvivalbrett umfunktionierten Holzschnitz schneide ich die selbst gesammelte Wurzel klein und werfe sie ins heiße Wasser. „Man könnte mit Wiesenthymian und Majoran würzen. Und als Salzersatz Buchenasche nehmen“, sagt Heike Koch.
Nach etwa zehn Minuten zückt ihr Mann drei selbst geschnitzte Holzlöffel und wir probieren unseren Wildniseintopf. Die Wärme tut gut. Die Dolden schmecken karottig. Das Springkraut fast fruchtig. Die gekochte Wurzel ist nicht mein Fall. Bitter und hungrig – unschöne Kombination. Ich bekomme nichts mehr hinunter. Insgeheim wünsche ich mir einen Brombeerstrauch. Oder ein Feld mit Champignons. Vielleicht hatte ich wie im Comic Brombeeren in den Augen, vielleicht kann Koch auch Gedanken lesen. Vielleicht habe ich auch vor Hunger was von Brombeeren gefaselt und wieder vergessen. Jedenfalls sagt Koch: „Beeren und Pilze sind kein Survivalfood. In Beeren steckt nur Zucker, in Pilzen nur Zellstoff und etwas Fett. Die Verwechslungsgefahr ist zu groß.“Lecker wär’s jetzt aber trotzdem!!
Dass die Ausbeute nicht sonderlich üppig sein wird, das hatte Stefan Koch am Telefon schon angekündigt. Nach der Sommersonnwende zieht sich die Natur schließlich langsam wieder zurück. Ich habe zwar noch einen Extraapfel eingepackt, allerdings auf das Anfängerglück gesetzt, etwas Sättigendes zu finden. Ganz falsch war das nicht, wie ich am Lagerfeuer lerne. Eine positive Lebenseinstellung, ein klarer Kopf seien in Notsituationen überlebenswichtig, sagen Kochs, während ich ein Gefühl davon bekomme, wie schwer das sein kann. Denn: nass, kalt und hungrig – das zermürbt.
So eine Grenzerfahrung schärft aber auch den Blick. Auf dem Rückweg fallen mir am Straßenrand plötzlich überall Doldenblütler auf. Ich fahre zu schnell, als dass ich kleine, schwarze Punkte erkennen könnte. Aber es könnte Essen sein. Am Abend, nachdem eine heiße Badewanne, eine Kopfschmerztablette und eine Breze mich wieder in der Zivilisation empfangen haben, fällt mir zum ersten Mal auf, welch wilde Schätze in den Fugen der Terrasse wachsen, die ich am Morgen noch übersehen hatte: Löwenzahn und Breitwegerich – jetzt weiß ich: alles Rüstzeug für Krisenzeiten.