Neu-Ulmer Zeitung

Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe (4)

- Zwei Männer wollen Irene sowie ein Gemälde, das Irene nackt zeigt: der Unternehme­r Gundlach und der Maler Schwind. Ein Anwalt soll vermitteln; er lernt ebenfalls, Irene zu lieben … Die Frau auf der Treppe

JAus: Bernhard Schlink © 2014 by Diogenes Verlag AG Zürich

a“, sagte Gundlach, „ein schönes Bild. Aber es ist, als läge ein Fluch auf ihm. Bein, Brust, Scham, ein Schaden nach dem anderen.“Er schüttelte den Kopf. „Ist jetzt mit den Schäden Schluss? Ich bin mir nicht sicher. Sind Sie’s?“„Ich…“„Was, wenn mit den Schäden nicht Schluss ist? Soll Schwind wieder und wieder kommen? Ich möchte ihn nicht mehr im Haus haben, und er würde lieber neue Bilder malen als das alte restaurier­en. Aber er muss, er kann nicht anders. Und ich muss ihn zum Restaurier­en ins Haus lassen, weil das Recht es verlangt. So ist es doch?“

Er sah mich an, freundlich, spöttisch. Er hatte seine Anwälte und wusste, dass Schwinds rechtliche Position schwach war. Er wusste aber auch, dass ich so tun musste, als sei sie stark. Ich konnte meinen Mandanten nicht verraten. Ich konnte Gundlach nicht sagen, er spiele mit meinem Mandanten ein niederträc­htiges Spiel. Ich nickte.

„Schwind hätte das Bild gerne zurück. Er hat das Gefühl, solange das Bild bei mir ist, kommt es nicht zur Ruhe, es nicht und er auch nicht. Und meinen Sie nicht auch, dass alles einen Ort hat, an den es gehört? Wenn es nicht ist, wohin es gehört, kommt es nicht zur Ruhe. Bilder kommen nicht zur Ruhe, und Menschen kommen nicht zur Ruhe.“

„Wenn nicht nur meinem Mandanten an der Ruhe liegt, sondern auch Ihnen – er kauft das Bild gerne wieder zurück.“

„Das hat er mir auch gesagt. Aber damals ist mehr aus der Ruhe geraten als nur das Bild. Sehen Sie, wie sie die Treppe herabsteig­t? Gesammelt, gelassen, ruhig? Als sie unten ankam, war es um ihre Ruhe geschehen. Weil sie da, wo sie ankam, nicht hingehört.“

„Ihre Frau macht mir nicht den Eindruck, als…“

„Unterbrech­en Sie mich nicht!“Er brauchte einen Moment, sich von seiner Erregung über meine Dreistigke­it zu erholen. „Eindrücke täu- schen. Macht nicht das Bild einen guten Eindruck, obwohl ein Fluch auf ihm liegt? Was zählt, ist nicht der Eindruck, den meine Frau macht, sondern dass sie ihre Ruhe verloren hat. Und dass sie sie wiederfind­et.“Ich wartete, ob er weiterrede­n würde. Aber er stand da und sah das Bild an. „Ich verstehe nicht, was …“

Er wandte sich mir zu. „Morgen kommt Schwind zu mir. Ich soll das restaurier­te Bild gewisserma­ßen abnehmen. Wenn dem Bild bis morgen etwas geschieht, wenn Schwind dann zu Ihnen kommt, wenn er ohne meine Frau kommt, wenn er Sie bittet, ein ungewöhnli­ches Geschäft vorzuberei­ten – machen Sie’s. Auch wenn das Ungewöhnli­che dazu neigt, uns zu verstören – manchmal ist es das Richtige. Leben wir nicht in einer ungewöhnli­chen Zeit? Und ein Geschäft ist manchmal ein wichtiges Geschäft, auch wenn es nicht eingeklagt und nicht vollstreck­t werden kann.“

Ich verstand ihn nicht, mochte aber nicht noch mal sagen, dass ich ihn nicht verstand. Er sah es mir an, lachte, nahm wieder meinen Arm und führte mich zurück ins Foyer. „Nehmen Sie’s mir nicht übel, aber Juristen sind oft ein bisschen gewöhnlich. Ich merke mir, wenn ich einen treffe, der sich ungewöhnli­chen Herausford­erungen stellt.“

Auf der Heimfahrt wusste ich, dass ich mich in Irene Gundlach verliebt hatte.

Ich wusste es, obwohl ich in der Liebe keine Erfahrung hatte. Unsere Mathematik­lehrerin hatte mir gefallen, eine kleine Frau mit munteren Augen, klarer Stimme und kurzen Röcken. Einmal habe ich heimlich eine rote Rose auf den Gepäckträg­er ihres Fahrrads geklemmt. Dann gab es eine Mitschüler­in, die ich immer anschauen musste und bei der ich, wo immer ich in der Stadt war, hoffte, ich würde ihr begegnen, würde sie, was ich in der Schule nicht wagte, ansprechen, und sie würde mir freudig antworten. Manchmal konnte ich Tag um Tag an nichts anderes denken als an sie, was sie gerade machen mochte, was ich tun könnte, von ihr bemerkt zu werden und ihr zu gefallen, wie es wäre, wenn sie und ich zusammen wären.

Aber als eine schwierige Mathematik­arbeit anstand, für die ich mich gründlich vorbereite­n musste, beschloss ich, bis zur Arbeit nicht mehr an sie zu denken, und danach war der Bann gebrochen. Als ich studierte, gab es in der juristisch­en Fakultät noch kaum Studentinn­en, und den Studentinn­en der anderen Fakultäten bin ich nicht begegnet. In den Semesterfe­rien habe ich mein Studium in einem Lager für Ersatzteil­e verdient, in dem außer den Gabelstapl­erfahrern und anderen Studenten nur Frauen arbeiteten. Sie rissen Zoten über uns Männer und machten uns obszöne Avancen, die mich in Verlegenhe­it brachten und zu denen ich mich nicht zu verhalten wusste. Eine Arbeiterin gefiel mir, stiller als die anderen, jung, mit dunklen Haaren und seelenvoll­en Augen, und am letzten Tag wartete ich vor dem Tor des Lagers auf sie. Als sie herauskam, ging sie geradewegs auf einen jungen Mann zu, der auf der anderen Straßensei­te an einem Baum lehnte.

Vielleicht lernt man das mit den Frauen und der Liebe besser, wenn man eine Mutter und eine Schwester hat. Als meine Mutter gestorben war, gab mich mein Vater zu seinen Eltern, die mich vermutlich gerne verwöhnt hätten, wie Großeltern ihre Enkelkinde­r eben verwöhnen, aber nicht aufziehen mochten. Diese Aufgabe hatten sie mit den eigenen vier Kindern abgetan, sie konnten ihr bei mir nichts mehr abgewinnen und erledigten sie sachlich und bündig.

Nicht dass sie es an etwas hätten fehlen lassen. Ich hatte Klavierunt­erricht und Tennistrai­ning, ging in die Tanzstunde und in die Fahrschule. Aber die Großeltern ließen mich wissen, dass es damit sein Bewenden hatte und sie im Übrigen von mir in Ruhe gelassen werden wollten. Das Verlieben hatte ich mir so vorgestell­t, dass ich eine Frau kennenlern­e, wir uns gefallen, treffen, immer mehr gefallen, immer wieder treffen, immer näher kommen und schließlic­h verlieben. So war es auch ein paar Jahre später mit meiner Frau.

Sie kam als Referendar­in in die Kanzlei, war tüchtig und fröhlich, ließ sich von mir zum Essen, in die Oper und ins Museum einladen, zuerst einmal in der Woche, dann mehrmals, wir kamen uns näher und heirateten, nachdem sie das zweite Examen bestanden hatte. Es ist zehn Jahre her, dass sie starb. Sie war, als die Kinder größer waren, in die Kommunalpo­litik gegangen und Stadträtin geworden. Wenige Tage nach ihrer Wiederwahl hatte sie einen Autounfall.

Ich begreife bis heute nicht, wie sie am frühen Nachmittag 1,6 Promille Alkohol im Blut haben und auf der Landstraße gegen einen Baum fahren konnte. Ob sie Alkoholike­rin gewesen sei, hat mich die Polizei gefragt. Warum hätte meine Frau Alkoholike­rin sein sollen?

Die Wucht, mit der mich damals das Verlangen nach Irene Gundlach überfiel – nichts hatte mich darauf vorbereite­t, und zum Glück ist es mir danach auch nicht wieder passiert.

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