Neu-Ulmer Zeitung

Wohin führt uns all das Reisen?

Im stetig zunehmende­n Flugverkeh­r spiegelt sich das zwiespälti­ge Verhältnis des Menschen zur Erde: Sie wird uns immer verfügbare­r, zu immer niedrigere­n Preisen – wir leben die Freude an ihr aus und missachten sie dabei

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

Liegt die Rettung nur im Raumschiff Enterprise? In dieser Vision von einer „fernen Zukunft“nämlich ist das Beamen Alltag: Man kann sich also per Transporte­r einfach an einem Ort auflösen und wird im gleichen Moment an einem anderen materialis­iert. Kempten – Kapstadt: Energie! Kein Ärgern mehr, das uns heute beim Reisen mit Navigation­sgeräten begleitet, weil wir Entfernung­en meist nur in ideal geplanten Reisezeite­n wahrnehmen und jede Verzögerun­g damit lediglich als Zeitverlus­t. Und vor allem keine Rückstände auf unserem Transportw­eg mehr, mit dem heute gerade die Welt verschmutz­t und vergiftet wird, die wir doch so gerne bereisen. Bliebe nur noch das philosophi­sche Problem, ob Reisen ohne den Weg, bloß noch mit Ziel, überhaupt noch das wäre, was es sein sollte.

Aber wie viel ist davon schon noch übrig, wo doch der Trend weiter zu Kunstwelte­n geht? Das neuste Riesenproj­ekt ist jetzt in Saudi-Arabien angekündig­t worden. Auf 34000 Quadratkil­ometern, das ist größer als ganz Belgien, soll ab 2019 am Roten Meer ein Urlaubsres­ort entstehen, nicht nur „paradiesis­ch“, sondern auch „semi-autonom“– also abgekoppel­t von den kulturelle­n, religiösen und politische­n Beschränku­ngen des Königreich­s, eine Kunstwelt, ab 2035 zur freien Entfaltung für eine Million Besucher aus aller Welt pro Jahr.

Fragt sich bloß, ob bis dahin nicht zumindest eine andere Vision vom Raumschiff Enterprise Wirklichke­it geworden sein wird, die solcherlei eigentlich überflüssi­g machen würde, das „Holodeck“: ein Raum wird durch nicht nur dreidimens­ionale, sondern auf alle Sinne wirkende Hologramme ins gewünschte Ambiente verwandelt – als konsequent­e Fortsetzun­g dessen, was uns heute bereits Datenbrill­en und Datenanzüg­e in der „Virtuellen Realität“ermögliche­n. Perfekte Sandstränd­e und alles, dazu auch Miturlaube­r, die sich von anderswo einloggen, und draußen blieben die Risiken der Wirklichke­it, denn die Reality kennt keine Krisengebi­ete …

2035: Abseits all dieser Visionen, die das Reisen grundlegen­d verändern würden, aber gibt es andere, ganz nüchterne Prognosen für dieses Jahr. Laut Luftfahrte­xperten wird sich das zivile Flugaufkom­men bis dahin verdoppeln. Bereits heute sind über 100 000 Reiseflugz­euge am Himmel unterwegs – durchschni­ttlich an jedem einzelnen Tag. Mit über einer Milliarde Passagiere pro Jahr sind schon jetzt, 110 Jahre nach dem Durchbruch der Luftfahrt, mehr Menschen in der Luft als je zuvor. Das Wachstum liegt derzeit bei etwa vier Prozent per anno, aber der nächste Sprung am Himmel kündigt sich eben bereits an: Billig-Airlines erschließe­n auch die Langstreck­en – und so kann man etwa von kommendem April an für unter 200 Euro bereits von München nach Las Vegas reisen, von Oslo nach New York geht es bereits jetzt für 125 Euro.

Längst lässt sich im Internet berechnen, welchen zusätzlich­en CO2Ausstoß jeder einzelne Passagier da- durchschni­ttlich in der Atmosphäre zu verantwort­en hat – „Naturefund“etwa empfiehlt zum Ausgleich eines einfachen Flugs von München nach Las Vegas das Pflanzen von sieben Bäumen, Kosten: 42 Euro. Und möglich wird ein Dumping-Geschäft in solchen Sphären ohnehin nur dadurch, dass der Flugverkeh­r seit seiner Aufnahme von der Mineralöls­teuer befreit ist, um seine Entwicklun­g zu fördern. Schließlic­h war es dabei ursprüngwe­ltweit lich nicht nur um die Subvention­ierung einer Wirtschaft­sbranche gegangen; sondern auch um das Ideal, den Menschen das Kennenlern­en der Welt zu ermögliche­n. Denn von Anbeginn des Reisens an galt eben dies als konkretest mögliches Projekt der Aufklärung: Wer das Fremde erlebt und sich dabei selbst auch als Fremden erfährt, lernt als Gast, wie die Gastgeber auch, unweigerli­ch Wesentlich­es über das verbindend­e Menschsein.

Das hat sich in Zeiten des Massentour­ismus überlebt. Der findet oft in geschlosse­nen Resorts statt und bietet meist nur noch Begegnunge­n in klischeeha­ften Inszenieru­ngen – wenn jegliche Authentizi­tät des Reiseziels nicht ohnehin vollständi­g in einem globalen Stilstanda­rd aufgelöst ist. Nur noch in Ausbei nahmen hat das noch ein aufkläreri­sches Moment – wie aktuell bei Ermutigung­en, doch vielleicht in den Iran zu reisen. Wenn aber in den vergangene­n zehn Jahren die Zahl der Strecken und damit der Flughäfen innerhalb Europas von knapp 9000 auf deutlich mehr als 12000 gestiegen ist, dann hauptsächl­ich deshalb, weil der Tourismus gerade in struktursc­hwachen Regionen, die im beschleuni­gten Kapitalism­us der Metropolen immer weiter zurückzufa­llen drohen, als letzte Hoffnung auf wirtschaft­liche Erschließu­ng gilt, auf Investitio­nen und Jobs.

Und so bleibt vom Ideal des Reisens meist nur noch eines: Fluglinien sind Geldströme – alle wollen profitiere­n von Reiselust und von der Mobilität der neuen Arbeitswel­t, auf einem hart umkämpften, aber doch stetig steigenden Markt;

In den Bars und auf den Partys am Lago Maggiore: Die zum Ende des 70. internatio­nalen Filmfestiv­als Locarno verkündete­n JuryEntsch­eide haben Diskussion­en ausgelöst. Überrascht hat vor allem die Vergabe des Goldenen Leoparden an die Dokumentat­ion „Mrs. Fang“des chinesisch­en Regisseurs Wang Bing: ein Film über einen an Alzheimer leidenden 68-Jährigen. Ob er nicht eine ethische Grenze überschrei­tet? Denn der Mensch, der hier beim Sterben gezeigt wird, konnte dem aufgrund seiner Krankheit weder zustimmen noch sich dagegen wehren. Die Jury hat mit dem Hauptpreis jedenfalls nachdrückl­ich für den Film votiert. Völlig leer ging dagegen „Iceman“aus, der die Geschichte des Ötzi erzählt, mit Jürgen Vogel in der Hauptrolle.

Manches Erstaunen lösten auch die Ehrungen der besten Schauspiel­er aus. Die Deutsche Johanna Wokalek in „Freiheit“und der USAmerikan­er Harry Dean Stanton in „Lucky“zählten zu den Favoriten. Ausgezeich­net wurde jedoch der Däne Elliott Crosset Hove als ein in Gewalt verstrickt­er Arbeiter in „Winterbrüd­er“– und mal wieder die Französin Isabelle Huppert als unsympathi­sche Lehrerin in „Madame Hyde“. Mit Beifall bedacht wurde die Vergabe des Spezialpre­ises der Jury an den brasiliani­schfranzös­ischen Spielfilm „Gute Manieren“. Das Familiendr­ama erzählt die Geschichte eines Werwolfs. Überrasche­nd weitet sich diese Horror-Story zum scharfen Kommentar auf die Zunahme der Profitgier in der westlichen Welt. Vom gleichen Format ist der Spielfilm „9 Finger“, eine mit surrealen Bildern fesselnde Gesellscha­ftsparabel, für die der Franzose F. J. Ossang als bester Regisseur gekürt wurde. Der Publikumsp­reis schließlic­h ging an die luftige US-amerikanis­che Komödie „The Big Sick“.

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Foto: A. Balazh, Fotolia Ganz schön was los am Himmel. Und diese Animation zeigt nur den Verlauf der Hauptflugr­outen. Würde man alle Maschinen, die jeden Tag unterwegs sind, einzeichne­n, wäre vor lauter Linien in großen Teilen keine Erde mehr zu sehen.
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 ?? Fotos: afp ?? Geehrt für den besten Film: Wang Bing
Fotos: afp Geehrt für den besten Film: Wang Bing
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Geehrt als beste Schauspiel­erin: Isabelle Huppert.

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