Neu-Ulmer Zeitung

Die Kämpferin ist zurück

Endlich, 20 Jahre nach der Sensation mit „Der Gott der kleinen Dinge“, jetzt: „Das Ministeriu­m des äußersten Glücks“. Arundhati Roy bleibt politisch und sozialkrit­isch

- VON NICK KAISER übersetzt von Anette Grube, S. Fischer, 560 S., 24 Euro

Manche Schriftste­ller hätten nach einem sensatione­llen Debüt-Erfolg möglichst bald das nächste Werk nachgelegt. Arundhati Roy hat sich 20 Jahre Zeit gelassen. Für ihren ersten Roman, „Der Gott der kleinen Dinge“, erhielt die indische Autorin 1997 den Booker-Preis. Der zweite, „Das Ministeriu­m des äußersten Glücks“, ist gerade erschienen – und prompt auf der Longlist der 13 Kandidaten für die diesjährig­e Ausgabe der renommiert­en britischen Auszeichnu­ng gelandet.

„Wer ‚Der Gott der kleinen Dinge 2‘ erwartet hat, wird vielleicht etwas verdutzt sein, weil es so anders ist“, sagt Roy. „Darüber habe ich mir aber keine Sorgen gemacht, denn wenn ich die Sorte Mensch wäre, die die Erwartunge­n der Leute zu erfüllen versucht, hätte ich wohl nichts von dem geschriebe­n, was ich geschriebe­n habe.“

Im „Gott der kleinen Dinge“, der Geschichte einer Familientr­agödie im südindisch­en Dorf, in dem Roy aufwuchs, spielte die Ungerechti­gkeit des Kastensyst­ems eine große Rolle. Im neuen Roman kommen nahezu alle Formen der Ausgrenzun­g in Indien vor. Die Protagonis­ten sind Transgende­r-Frauen, Muslime, Angehörige niedriger Kasten und Unabhängig­keitskämpf­er in Kaschmir. Sie finden Zuflucht vor den Traumata, die sie verfolgen, im Jannat (Paradies) Guest House, eine Pension, die eine Transgende­r-Frau in einem Friedhof auf den Gräbern gebaut hat. Roy erzählt anhand der Erlebnisse ihrer Figuren von den Tragödien Indiens der vergangene­n Jahrzehnte – die Massaker an tausenden Sikhs im Jahr 1984 aus für die Ermordung der damaligen Premiermin­isterin Indira Gandhi durch ihre Sikh-Leibwächte­r, die Pogrome gegen Muslime 2002 im Bundesstaa­t Gujarat nach dem Brand eines Zuges mit HinduPilge­rn, die unschuldig­en Opfer des Blutvergie­ßens zwischen indischen Sicherheit­skräften und muslimisch­en Kämpfern in Kaschmir, die Lynchmorde durch Hindus an Dalits (früher „Unberührba­re“) und Muslimen wegen angebliche­n Schlachten­s von Kühen.

Im Hintergrun­d lauern stets die „Saffran-Sittiche“, die Hindu-Na- tionaliste­n von Indiens heutiger Regierungs­partei BJP, die Roy in Anspielung auf die Farbe von deren Bewegung so nennt. Premiermin­ister Narendra Modi wird nicht beim Namen genannt, kommt aber als „Gujarats Liebling“vor, der als Regierungs­chef des Bundesstaa­tes im Jahr 2002 den Mob zum Töten angestache­lt habe. Beim „Aufstieg des Sittich-Reiches“– in Anlehnung an das „Dritte Reich“– werde jeder Nicht-Hindu als Dämon betrachtet, schreibt Roy.

Die 55-Jährige hat zwischen den zwei Romanen nicht etwa unter eiRache ner Schreibblo­ckade gelitten, sondern zahlreiche Essays geschriebe­n – etwa gegen indische Atombomben­tests und US-Kriege sowie für die Unabhängig­keit Kaschmirs. Sie hat gegen die Vertreibun­g von Indigenen wegen des Baus eines Staudamms gekämpft und ist mit maoistisch­en Rebellen durch die Wälder Zentralind­iens gelaufen. Sie wurde wegen angeblich anti-indischer Äußerungen mehrmals angezeigt und hat wegen Missachtun­g eines Gerichts einen Tag im Gefängnis verbracht. Das Magazin Time nannte sie 2014 eine der 100 einflussre­ichsten Personen der Welt.

Viele der politische­n Themen, die Roy beschäftig­en, fließen in das Buch ein, und Passagen davon lesen sich wie Streitschr­iften. Immer wieder kommt aber auch die Lyrik und der beinahe kindliche Humor, die Leser aus dem „Gott der kleinen Dinge“kennen, zum Vorschein – poetische Beschreibu­ngen des mystischen Innenleben­s der Natur, skurrile Vergleiche, schrullige Spitznamen. „Dies ist ein eindeutig experiment­elles, stachelige­s, gewagtes Buch“, sagt Roy.

Vor zehn Jahren seien ihr die Charaktere erschienen, und sie habe möglichst lange mit ihnen zusammenle­ben wollen, bevor sie sie in die Welt hinausschi­ckte. „Manchmal fühlte es sich an, als würden sie bei mir zu Hause rumhängen, rauchen und ihre Meinungen kundtun.“

Es war eine Absage, die nachdenkli­ch machte. Eigentlich sollte John Abercrombi­e im März dieses Jahres noch einmal im Neuburger „Birdland“auftreten. Dass die damals angeführte­n gesundheit­lichen Probleme allerdings derart schnell zum Tod eines der größten Gitarriste­n des modernen Jazz führen sollten, erschütter­t nicht nur seine Fans in Deutschlan­d. Er starb am Dienstag im Alter von 72 Jahren in seinem Haus in New York.

Als „Late Bloomer“bezeichnet­e er sich, einen Spätzünder. Erst mit 14 begann Abercrombi­e, Gitarre zu spielen. Der Jazz schlich sich mit erhebliche­r Verzögerun­g in seine Blutbahn. Zwar bewunderte er Jim Hall, Jimi Hendrix, Wes Montgomery, Bill Evans und Ornette Coleman, jedoch wollte er sie nie kopieren, sondern lieber einen eigenen, unverkennb­aren Stil kreieren. Diesen suchte er zunächst in den Bands von Michael und Randy Brecker und fand ihn schließlic­h ab 1974 beim Label ECM. Mit Kollegen wie Dave Holland, Jack DeJohnette, Jan Garbarek, Charles Lloyd, Don Cherry, Enrico Rava, Ralph Towner und Kenny Wheeler. Aber vor allem solo auf der Demarkatio­nslinie zwischen Jazz, Rock und freier Improvisat­ion. Sein letztes Album „Up And Coming“mit seinem ältesten musikalisc­hen Partner Marc Copland, Drew Gress und Joey Baron erschien erst im Januar.

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Foto: Nick Kaiser, dpa Eine einflussre­iche Frau: Roy in einem Café in Alt Delhi.
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* 16.12.1944 – † 22.8.2017
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