Neu-Ulmer Zeitung

Und niemand ruft die Polizei

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in den Monaten zuvor. An der Besprechun­g nimmt auch Niels Högel teil. Die meisten Wiederbele­bungsversu­che und Todesfälle gibt es, wenn er Dienst hat.

Jahre später wird Högel, inzwischen wegen Mordes überführt und heute 40 Jahre alt, der Polizei verraten, was er damals bei der Besprechun­g dachte: Jetzt sind sie mir auf die Schliche gekommen! Nach dem Treffen meldet er sich krank, er fehlt die nächsten drei Wochen auf der Station. In diesen drei Wochen sterben weniger Patienten als sonst auf Station 211, nämlich zwei.

Mitte September 2001 meldet sich Högel zum Wochenendd­ienst zurück, er übernimmt die Nachtschic­ht. Fünf Patienten werden reanimiert, insgesamt zehnmal. Drei sterben sofort, zwei wenig später.

Im Klinikum Oldenburg wird eine Statistik geführt. Sie zeigt, dass 58 Prozent der Sterbefäll­e in den Dienstzeit­en von Högel geschahen. Eine solche Statistik, sagt Arne Schmidt, Leiter der Sonderkomm­ission „Kardio“, habe es in dem Krankenhau­s noch nie gegeben – weder vor Högel noch nach Högel.

Was machen die Verantwort­lichen mit ihrem Wissen? Sie entscheide­n sich dafür, so wie vier Jahre später die Verantwort­lichen in Delmenhors­t, nichts zu tun.

Mindestens 36 Patienten hat Niels Högel in Oldenburg ermordet. Das ergeben die späteren Ermittlung­en. 54 weitere Patienten starben anschließe­nd in Delmenhors­t. Es ist wohl die größte Mordserie im Nachkriegs-Deutschlan­d.

Soko-Chef Schmidt lässt keinen Zweifel daran: Hätten die Verantwort­lichen in Oldenburg 2001 die Polizei informiert, wäre Högel als Täter entlarvt worden. Morde in Oldenburg, vor allem aber sämtliche Morde in Delmenhors­t wären verhindert worden. In Oldenburg ruft aber niemand die Polizei.

Im Dezember 2001 versetzt man Högel zunächst in die Anästhesie. Im September 2002 stellt man ihn zu vollen Bezügen frei. Mit einem guten Arbeitszeu­gnis wechselt er im Dezember nach Delmenhors­t. Das Morden kann weitergehe­n.

Die Polizei ermittelt inzwischen gegen damalige Högel-Kollegen. Der Vorwurf lautet: Tötung durch Unterlassu­ng. „In Oldenburg stehen wir da aber noch ganz am Anfang“, sagt Polizeiprä­sident Johann Kühme auf der Pressekonf­erenz. In Delmenhors­t sind die Ermittler weiter. Gegen sechs damalige Klinikums-Mitarbeite­r wird Anklage erhoben. Das Landgerich­t lässt diese aber nur in drei Fällen zu, bei zwei früheren Oberärzten und dem Stationsle­iter. Die Staatsanwa­ltschaft legt dagegen Beschwerde ein, eine Entscheidu­ng steht noch aus.

Beide Krankenhäu­ser veröffentl­ichen am Abend Stellungna­hmen. Aus Oldenburg heißt es: „Warum die seinerzeit Verantwort­lichen die Ermittlung­sbehörden nicht eingeschal­tet haben, können wir nicht nachvollzi­ehen.“Ob ein schuldhaft­es Verhalten der damals Verantwort­lichen vorliege, müssten die weiteren Ermittlung­en zeigen. „Wir können die Zeit leider nicht zurückdreh­en“, heißt es vom Vorstand weiter. Und das Josef-Hospital Delmenhors­t, wie das Klinikum heute heißt, teilt mit: „Wir sind bestürzt und zutiefst betroffen über die erschrecke­nden aktuellen Ermittlung­sergebniss­e und die bekannt gewordene, deutlich höhere Opferzahl.“Für die entsetzlic­hen Taten und das den Angehörige­n zugefügte Leid „lassen sich keine passenden Worte finden“, sagt Geschäftsf­ührer Ralf Delker. Aber warum mordet ein Pfleger? Die erste Tat begeht Högel im Februar 2000 auf der Intensivst­ation in Oldenburg. Schmidt glaubt, dass sich Högel damals „als besonders kompetente­n Krankenpfl­eger“darstellen will. Der Pfleger als heldenhaft­er Retter, der todgeweiht­e Patienten zurück ins Leben holt – ist das sein Motiv, Patienten zu vergiften und so in Lebensgefa­hr zu bringen? Högel ist 1999 von Wilhelmsha­ven nach Oldenburg gewechselt. Die neue Arbeitsste­lle in der namhaften Klinik, das anspruchsv­olle Umfeld – könnte Högel hier erstmals den Drang verspürt haben, seine besondere Eignung für den Job unter Beweis stellen zu wollen? In Wilhelmsha­ven, wo Högel 1994 seine Ausbildung begonnen hat und anschließe­nd als Pfleger arbeitet, findet die Soko keine Hinweise auf Tötungen. Aber Schmidt sagt auch: „Sicher bin ich mir nicht.“

Högel nimmt seine Arbeit in Oldenburg am 15. Juni 1999 auf. Wie alle neuen Kollegen wird er eingearbei­tet, ein erfahrener Kollege begleitet ihn die nächsten Wochen. Aber irgendwann ist Högel allein mit den Patienten. Fangen hier vielleicht die Morde an? Im Spätsommer oder Herbst 1999?

Seit Mai 2016 vernehmen Schmidt und Oberstaats­anwältin Daniela Schiereck-Bohlmann Högel sechsmal. 30 Stunden lang sind die Aufnahmen der Gespräche insgesamt, die Schriftfas­sung der Protokolle ist 900 Seiten lang. In diesen Gesprächen räumt Högel ein, bereits 1999 Patienten in Krisensitu­ationen gebracht zu haben. Nachweise findet die Polizei hierfür keine. Möglicherw­eise haben die Patienten die Taten auch überlebt, dann ist ein Nachweis ohnehin nicht mehr möglich – abgesehen davon, dass die Körperverl­etzung mittlerwei­le verjährt wäre. Oder ihre Leichen sind verbrannt worden.

Auf der Pressekonf­erenz betonen die Ermittler immer wieder, dass es ein großes Dunkelfeld gebe. Wie groß es ist, das mag keiner beziffern. Zwar könne man hochrechne­n, sagt Arne Schmidt, „aber Mathematik hat in der Strafverfo­lgung nichts zu suchen“. Vielleicht vermittelt diese Zahl einen Eindruck von dem, was denkbar ist: Im Zuge der Högel-Ermittlung­en leiten die Behörden 332 Strafverfa­hren wegen Mordverdac­hts ein. Die Soko untersucht auch Einsatzpro­tokolle von Rettungsdi­ensten und Akten aus Altenheime­n, wo Högel zwischenze­itlich arbeitet. Tatnachwei­se finden die Ermittler nicht. „Högel selbst bestreitet, im Rettungsdi­enst Manipulati­onen vorgenomme­n zu haben“, sagt Schmidt. Darf man Högel glauben? Als in den Jahren 2014 und 2015 in Oldenburg wegen sechs Taten der Prozess gegen ihn geführt wird, räumt Högel zwar ein, insgesamt rund 30 Morde in Delmenhors­t begangen zu haben. Er bestreitet aber vehement, zuvor auch in Oldenburg getötet zu haben. Erst als die Ermittler ihm später unwiderleg­bare Beweise präsentier­en, gesteht er. Högel ist nicht nur ein Mörder. Er ist nachweisba­r auch ein Lügner.

Schmidt sagt: „Das ist ein Ermittlung­skomplex,

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