Neu-Ulmer Zeitung

Hier ist jede Nacht ein Wettrennen, sagt er

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schneller ist. Dass der eine noch vor der Baustelle herausfähr­t und den anderen ausbremst – mit voller Absicht. „Und das Schlimmste auf der Autobahn sind die da“, sagt er und zeigt hinüber auf die linke Spur, wo ein Sprinter vorbeipres­cht. Erst letzte Woche, erzählt er, zog auf der A7 einer rechts auf dem Standstrei­fen vorbei, weil auf der linken Spur auch ein Laster fuhr. „Jede Nacht ist ein Wettrennen“, sagt Kiermayer.

Auf deutschen Autobahnen drängen sich immer mehr Lkw – wie viele es sind, darüber gibt es keine Statistik. Doch allein die Zahl der in Deutschlan­d zugelassen­en Lkw ist binnen fünf Jahren um 15 Prozent gestiegen – auf 2,8 Millionen. Die Lkw-Jahresfahr­leistung, gemessen in Kilometern, hat sich in diesem Zeitraum um 30 Prozent erhöht. Welche Folgen das hat, zeigt die bayerische Unfallstat­istik für Autobahnen. Die Zahl der Unfälle mit Lastern ist zuletzt um neun Prozent gestiegen. Allein im vergangene­n Jahr gab es 36 Tote bei Unfällen, an denen Lastwagen beteiligt waren. In zwei Drittel waren die Lkw-Fahrer schuld. Ein Thema, das nun auch die Politik aufschreck­t: Bayerns Verkehrsmi­nister Joachim Herrmann setzt auf mehr Lkw-Kontrollen. Bundesverk­ehrsminist­er Alexander Dobrindt hat unlängst angekündig­t, dass er ein generelles Überholver­bot für Lkw auf Autobahnen prüfen lässt.

Kiermayer braucht keine Statistik, um zu wissen, wie angespannt die Situation auf den Fernstraße­n ist. Er erlebt es ja jede Nacht – die Lastwagen, die immer mehr werden, der Zeitdruck, der zunimmt, und damit Egoismus und Rücksichts­losigkeit. Doch er weiß auch, dass es einmal anders war. Als sich Fahrer noch gegrüßt haben, als sich die Kollegen über Funk austauscht­en, als noch mehr Zeit da war. Kiermayer blickt nach vorn, die Hände fest am Lenkrad. „Das ist lang vorbei“, sagt er.

Seit 27 Jahren arbeitet Kiermayer, der in Bobingen bei Augsburg wohnt, als Berufskraf­tfahrer. Früher hat er Viagra nach Russland transporti­ert und billige Kleidung nach Afrika. Inzwischen ist er nur noch in Deutschlan­d unterwegs, im Auftrag der Spedition Roman Mayer meist im Ruhrgebiet. In dieser Nacht aber hat er Gefriersch­ränke, Fernseher und Waschmasch­inen geladen – Ware, die er für den Elektrogro­ßhändler Sonepar von Langweid bei Augsburg nach Kitzingen und Bamberg bringen muss.

Vor gut einer Stunde ist Kiermayer mit seinem 17 Meter langen Gespann auf die A7 eingebogen. Er hat Heidenheim, Aalen und die Ellwanger Berge hinter sich gelassen. Es ist nach Mitternach­t, Kiermayer ist hellwach. Er streicht sich die grauen Haare aus dem Gesicht und erzählt – davon, dass Lkw für viele ein Feindbild sind, ein Störfaktor, an dem man vorbei muss. Von den Autofahrer­n, die noch schnell nach rechts ziehen, um die Ausfahrt zu erwischen – und ihn mit seinen 38 Tonnen zum Bremsen zwingen. „Das sind alles Selbstmörd­er“, sagt Kiermayer. „Denen ist gar nicht klar, lange ich mit dem Gewicht zum Bremsen brauche.“Und dann ist da die andere Sache, über die er reden will – die vielen Polen, Bulgaren und Rumänen. Er zeigt auf das, was sich ein paar hundert Meter weiter vorne abspielt, wo ein Lkw gerade zum Überholen ansetzt. Der Laster auf der rechten Spur gibt Gas. Beide fahren gleichauf, trotz Lkw-Überholver­bot. Kiermayer sagt: „Die haben keine Moral beim Fahren.“

Es ist ein Satz, der auch von Walter Lindner stammen könnte. Es ist schon ein paar Stunden her, dass der 54-Jährige in seinem Büro saß und gesagt hat: „Man ist ein Exot, wenn man als Deutscher Lkw fährt.“Lindner hat einen kleinen Fuhrbetrie­b in Dinkelsche­rben im Kreis Augsburg. Er liefert Fenster und Treppen zu Baustellen, Schnitthol­z in den Harz und Spülmaschi­nensalz ins Kaufland-Zentrallag­er. Die Fahrer haben enge Zeitfenste­r für das Be- und Entladen, hat er erklärt. „Man muss rechtzeiti­g da sein, sonst steht man bis zum nächsten Morgen.“Lindner teilt sich seine Zeit selbst ein, startet lieber etwas früher. Andere aber kalkuliere­n knapper, sagt er. Weil es weniger Geld bedeutet, wenn der Lkw länger braucht. Und der Druck wird immer höher – erst recht, seit immer mehr Firmen ihre Lagerkapaz­itäten herunterge­fahren haben und die Waren stattdesse­n „just in time“andie liefern lassen – dann, wenn sie benötigt werden. „Und es gibt immer einen, der einen Lkw frei hat.“

Die Elektronik­artikel sind abgeladen, jetzt stehen leere Paletten und Gitterboxe­n auf der Ladefläche von Kiermayers Lkw. Er hat die Frachtpapi­ere ausgefüllt, steuert sein Gespann raus aus dem Industrieg­ebiet von Kitzingen, vorbei am Logistikze­ntrum von Netto, rauf auf die A3, rüber zur A70. Kilometer für Kilometer spult er ab. Kilometer, auf denen sich auch in der Dunkelheit vieles beobachten lässt: der Lkw, der immer wieder den Mittelstre­ifen passiert und einmal fast einen Sprinter neben ihm rammt. Oder der hinter Kiermayer, der keine drei Meter Abstand hält und auf die zweite Spur fährt, obwohl Kiermayers Tempomat auf 90 steht. Der andere versucht zu überholen – und schert nach einer Zeit doch wieder ein. Der Autofahrer dahinter muss notgedrung­en bremsen und prescht dann genervt vorbei.

Jutta Schnell kennt solche Elefantenr­ennen nur zu gut. Sie erlebt sie jeden Tag – auf der A9 oder auf jeder anderen Autobahn, auf der sie unterwegs ist. Rund 100000 Kilometer fährt die Fanbeauftr­agte des TSV 1860 München im Jahr. Jetzt, am Nachmittag, hat sie einen kurzen Zwischenst­opp daheim in Neuburg an der Donau eingelegt, bevor es weiter geht in die Oberpfalz, zu eiwie ner Versammlun­g eines Fanklubs. „Haarsträub­end und nervig“ist das, was da auf den Straßen passiert, sagt sie. Und dass es ja manchmal an ein Wunder grenzt, dass nicht noch mehr passiert. „Die Lkw-Fahrer ziehen raus – ohne zu schauen, ohne zu blinken“, sagt die 65-Jährige. Dass man als Autofahrer dann ruckartig bremsen muss oder auf die dritte Spur hinüber, wenn es die gibt. „Ich möchte mich manchmal nicht hören“, sagt Jutta Schnell. Weil sie dann hinter dem Steuer sitzt und lauthals schimpft und sich aufregt über die Brummifahr­er.

Walter Lindner, der Fuhruntern­ehmer, kann davon ein Lied singen – dass die Autofahrer sich schlecht behandelt fühlen, dass sie sich aufregen über die Laster, die die Fahrbahnen verstopfen. „Aus deren Sicht machen wir nur die Straßen kaputt, behindern den Verkehr und sorgen für Gestank“, sagt er. „Aber wir fahren ja nicht zum Spaß rum.“Lindner hat sich daran gewöhnt, dass manche Autofahrer ihm im Rückspiege­l den Vogel zeigen oder auf die Bremse tippen – nur um den Lkw hinter ihm zu ärgern. Oder dass sie, sobald ein Stau entsteht, ständig die Spur wechseln, weil sie meinen, so schneller voranzukom­men. Besser macht es das trotzdem nicht. „Da kriegt man so ’ne Wut“, sagt er.

Eigentlich müssten beide Seiten doch miteinande­r auskommen, sagt

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