Neu-Ulmer Zeitung

„Geld Fetisch“sei tödlich für eine humane Gesellscha­ft

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Hien sieht in den Lebenshalt­ungskosten ein Problem, allerdings eher ein gesellscha­ftspolitis­ches: „Es geht darum, dass der Mensch ausreichen­d Geld für ein gutes Leben hat. Und nicht, dass er besonders viel verdienen muss.“Dieser „Geld-Fetisch“sei tödlich für eine humane Gesellscha­ft.

Physiother­apeutin Johanna Ernst gehört mit ihren 31 Jahren zu dieser Generation Y. Sie nimmt für den Luxus Freizeit auch finanziell­e Einschnitt­e in Kauf. „Ich verdiene jetzt so viel, wie als Berufsanfä­nger in Hessen vor acht Jahren“, sagt sie. Natürlich müsse sie sich mehr einschränk­en. Aber lieber stecke sie woanders zurück als bei ihrer Freizeit. Der Freitag gehört jetzt ihr. Und den nutze sie hauptsächl­ich für ganz „banale Sachen“: In Ruhe einkaufen gehen. Den Haushalt machen. Über das Wochenende wegfahren. Zeit haben.

Verkürzte Arbeitszei­ten als die Norm – Beraterin Engelsdorf­er und Arbeitsfor­scher Hien wissen, wie gering die Akzeptanz in der Wirtschaft dafür ist. Eine Umfrage der KörberStif­tung hatte im vergangene­n Jahr ergeben, dass die Wunscharbe­itszeit der Befragten bei 31 Stunden pro Woche liegen würde – weit weniger, als sie tatsächlic­h schuften. Gerade in männerdomi­nierten Branchen herrsche eine große Skepsis gegenüber jenen, die weniger arbeiten wollen, sagt Engelsdorf­er: „Ist der nicht richtig engagiert, nicht motiviert?“

Hien erklärt sich die geringe Akzeptanz auch mit dem Interessen­skonflikt der Arbeitgebe­r mit den Arbeitnehm­ern: „Wir haben überwiegen­d Arbeitgebe­r, die sehr traditione­ll denken und sich nur sehr schwer für neue Überlegung­en öffnen. Sie vertreten ihren Standpunkt autoritär: ‚Die Leute müssen da sein und sie müssen lange da sein.‘“

Hien glaubt nicht, dass sich die Zukunft der Arbeit so gestalten lässt. Auch Wirtschaft­sökonomen sind sich sicher, dass sich der Arbeitsmar­kt verändern muss. „Der Rohstoff der Zukunft ist Kreativitä­t“, mahnen sie, oder „Kreativitä­t oder soziale Interaktio­n ist schwer digitalisi­erbar.“Wer wird in dreißig Jahren die Steuerkass­en füllen, wenn viele Berufe durch Maschinen ersetzt wurden? Die Menschen, die ihr Potenzial erkannt haben – je komplexer der Beruf, desto sicherer sei er, sagt auch US-Ökonom Tyler Cowen. Gute Zeiten für die Kreativen, die Problemlös­er, die Menschen, die anderen helfen. Doch dazu müssen auch die Umstände stimmen. Aber Bedenken, die gegen eine Lockerung sprechen, sind die gleichen wie zu Bismarcks Zeiten.

Doch neue Ideen und frische Konzepte stellen sich nicht auf Knopfdruck ein. Und auch Johanna Ernst, die den ganzen Tag Menschen behandelt, kann das besser, wenn sie ausgeruht ist. „Ich stehe voll dahinter“, sagt sie über die Entscheidu­ng weniger zu arbeiten. „Definitiv“, sie lehnt sich leicht zurück und lächelt zufrieden. Etwa sieben Mal im Jahr nutzt sie das lange Wochenende für ihre Weiterbild­ung zur Osteopathi­n. Was dazwischen bleibt: Luft. Zum Durchatmen.

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