Neu-Ulmer Zeitung

Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe (31)

- Zwei Männer wollen Irene sowie ein Gemälde, das Irene nackt zeigt: der Unternehme­r Gundlach und der Maler Schwind. Ein Anwalt soll vermitteln; er lernt ebenfalls, Irene zu lieben… Die Frau auf der Treppe

„GAus: Bernhard Schlink © 2014 by Diogenes Verlag AG Zürich

laub mir, wenn sie noch etwas zu machen gewusst hätten, hätten sie’s gemacht. Sie leben davon.“

„Hast du eine zweite Meinung eingeholt?“

„Ich habe eine zweite Meinung eingeholt und mich über Behandlung­en informiert und sogar die wundersame­n Heilungen recherchie­rt, von denen berichtet wird. Und ich möchte nicht von dir verhört werden.“

Ich war gekränkt, weil ich es gut gemeint, und ärgerte mich, weil ich es dumm angestellt hatte. Irene sah es und sagte: „Ich weiß. Wenn ich könnte … Ich würde lieber nicht sterben.“Jetzt erst traf es mich. Irene würde sterben. Ein Kollege aus der Kanzlei hatte sich letztes Jahr in den Ferien so lust- und appetitlos gefühlt, dass er nach seiner Rückkehr zum Arzt ging, der ihn zur Untersuchu­ng ins Krankenhau­s überwies; drei Wochen später war er tot. Bei meinem

Zahnarzt dauerte es von der Diagnose bis zum Tod zwei Monate. Wenn mir jemand von einem plötzliche­n Tod erzählt, frage ich inzwischen „Bauchspeic­heldrüse?“und liege richtig. Der bösartigst­e, schnellste, tödlichste Krebs. Allerdings habe ich auch gelernt, dass man, wenn man Glück hat, nicht von Schmerzen, Thrombosen oder Atemnot geplagt wird, sondern sich nur schwach und schwächer fühlt. Der Körper stellt einfach seine Arbeit ein, verweigert sich, verabschie­det sich. Wenn man Glück hat, schläft man ein und wacht nicht mehr auf.

„Möchtest du etwas? Kann ich dir etwas bringen?“„Ein weiteres Kopfkissen.“Ich brachte ihr das Kopfkissen. Als ich gehen wollte, sagte sie: „Holst du einen Stuhl und setzt dich zu mir?“

„Ich muss die Wäsche aufhängen.“

„Kommst du, wenn du sie aufgehängt hast?“

Was mochte sie von mir wollen? Auch meine Frau wollte, als sie einmal eine Lungenentz­ündung hatte, dass ich an ihrem Bett sitze und dass ich ihre Hand halte. Aber sie hat mich nichts gefragt und auf meine Fragen einsilbig geantworte­t, und ich wusste nicht, was ich an ihrem Bett sollte. Ich habe dann Akten mitgenomme­n und bearbeitet. Irene hatte ein Regal mit Büchern in ihrem Zimmer. Ob ich unter den Büchern ein interessan­tes fände? Aber als ich saß, fragte sie: „Erzählst du mir, wie es geworden wäre?“Ich verstand nicht. „Wie es geworden wäre, wenn ich damals zu dir gekommen wäre?“

Manchmal habe ich meinen Kindern Geschichte­n erzählt. Meistens kam ich so spät nach Hause, dass sie schon schliefen. Aber wenn ich früher kam und sie noch wach waren, bestand meine Frau darauf, dass ich mich zu ihnen setzte und mit ihnen redete.

Aber was sollten wir miteinande­r reden, ein Rechtsanwa­lt um die vierzig und ein Mädchen und zwei Jungen zwischen neun und zwölf? Zum Glück mochten sie meine Geschichte­n, die Abenteuer eines Jungen im Dreißigjäh­rigen Krieg, und ich hatte Spaß daran, sie mir auszudenke­n.

Die Kanzlei hatte damals einen Wagen angeschaff­t und einen Chauffeur angestellt, und ich saß im Fond, fuhr nach Hause, fand den Faden der Geschichte wieder und spann ihn weiter. Aber was Irene jetzt wollte – wie sollte ich das leisten? Über sie reden, über mich, über uns, Fiktion, aber Fiktion, in der wir vorkamen, wie wir wirklich waren. „Ich weiß nicht …“Sie sagte nichts, sah mich nur aufmerksam und erwartungs­voll an. „Ich brauche einen Moment.“Sie nickte und sah mich weiter an. „Ich … „ Ich machte die Augen zu und suchte die alten Bilder: Irene auf der Mauer, ihr Lachen, ihr Sprung, Irene in meinen Armen, Irene am Steuer, Irene, die mir sagt, dass ich aussteigen soll, die mich mit einem Kuss verabschie­det und absetzt, die davonfährt. Ich mochte die alten Bilder nicht. Ich weiß nicht, warum ich mich auf Irenes Bitte einließ.

„Ich holte im Dorf mein Auto und fuhr nach Hause. Hattest du am Samstag gemerkt, dass ich die Wohnung in einen Zustand gebracht hatte, von dem ich hoffte, er würde dir gefallen? Ich lief auch am Sonntag wieder durch die Wohnung und nahm hier etwas weg und legte dort etwas hin, schuf hier und dort ein bisschen Durcheinan­der, damit du nicht gleich sähest, was für ein Pedant ich bin, sondern mich für einen kreativen, souveränen Menschen hieltest. Ich hatte Angst, du würdest nicht kommen, sah alle Augenblick­e aus dem Fenster, machte eine Kanne Tee, vergaß, die Blätter rauszunehm­en, und vergaß es bei der nächsten Kanne wieder.

Aber du kamst. Du kamst zu Fuß, ich sah dich von weitem, deine aufrechte Haltung, deinen leichten, festen Gang – habe ich dich überhaupt jemals schlendern gesehen? Du kamst über die Straße, ich rannte hinunter, machte dir auf und wollte dich wieder in die Arme nehmen, merkte aber, dass das jetzt nicht passte, dass es dir nicht passte.

Über dem Tee fragtest du: ,Kann ich ein paar Tage hierbleibe­n? Wie die Schwester beim Bruder? Ich habe eine Wohnung, aber Karl und Peter wissen von ihr, und ich will dort nicht von ihnen gesucht werden. Ich will auch nicht von Peter in einem Hotel gefunden und gestellt werden; er kann seine Leute alle Hotels absuchen lassen. Ich könnte verreisen, aber ich möchte morgen wieder arbeiten.‘

,Bei der Arbeit finden sie dich nicht?‘

,Nicht wenn ich dem Direktor sage, dass ich nicht gefunden werden möchte.‘

,Und auf dem Weg zur Arbeit? Wenn du ins Museum…‘

,Ich weiß schon, dass ich mich nicht lange verstecken kann. Ich will nur ein paar Tage nichts von den beiden sehen.‘

Wir saßen mit dem Tee auf dem Balkon.

Hier hatte ich am Morgen vom gemeinsame­n Leben auf dem Balkon geträumt, auf diesem und auf einem größeren und schöneren, und vom Leben in einem Garten mit alten Bäumen und vom Heiraten. Ich hätte darin, dass du bei mir unterschlü­pfen wolltest, gerne ein Verspreche­n gesehen, wusste aber, dass du keines gabst. Ich dachte an Filme, in denen der Held die Frau einfach in die Arme nimmt und sie zuerst nicht will und dann doch, ihm zuerst mit den kleinen Fäusten gegen die breite Brust schlägt und ihn dann zärtlich hält. Wusstest du, dass ich das nicht versuchen würde? Dass ich dazu nicht fähig war? Dass du bei mir sicher warst? Verachtete­st du mich dafür?

Das beunruhigt­e mich, bis mich die Freude überwältig­te, dass du bleiben würdest. Immerhin ein paar Tage Gemeinsamk­eit. Zusammen kochen, essen, reden, die Zeitung oder ein Buch lesen, fernsehen, einkaufen, Spaziergän­ge machen. Ich lachte dich an, und du lachtest zurück, erleichter­t, dass ich nicht drängte und bettelte und es kein Drama gab.

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