Neu-Ulmer Zeitung

Maler im Jahrhunder­t der Extreme

Vom Kunst-Establishm­ent lange gemieden, erfährt der 1971 gestorbene Augsburger zunehmend Anerkennun­g. Eine Schau in Kaufbeuren würdigt ihn als „Einzelgäng­er der Moderne“

- VON HANS KREBS

Am Eingang des Kunsthause­s Kaufbeuren empfängt viel Weiblichke­it. In einem barocken Durcheinan­der und mit kräftigen Farbimpuls­en füllt sie den Bildraum zweier Werke, die Karl Kunz (1905–1971) anno 1961 geschaffen hat. Sie sollen Appetit machen auf die Kunz-Werkschau, die 32 Gemälde und 18 Federzeich­nungen umfasst. Am Ende des Parcours flimmert eine kurze Filmdokume­ntation aus dem Jahr 1966. In ihr bekennt der renommiert­e Kunst-Professor und Kunz-Freund J. A. Schmoll, genannt Eisenwerth: „Ich halte Karl Kunz für einen der bedeutends­ten Maler unseres Jahrhunder­ts.“Das ist hoch gegriffen. Im Widerspruc­h spottete der Künstlerko­llege Ernst Wilhelm Nay etwa zur selben Zeit: „Kunz? – hat wohl das t vergessen.“Ein Hoch wiederum quoll zum 65. Kunz-Geburtstag aus der Feder von Doris Schmidt, einer maßgeblich­en Kunstkriti­kerin: „Er gehört zu den wenigen Schlüsself­iguren der Jahrhunder­tmitte in unserem Land.“

Die Kaufbeurer Ausstellun­g vermittelt die Antwort, dass Kunz das t durchaus nicht vergessen hat, dass seine Kunst vielmehr in mancherlei Hinsicht so singulär ist, dass man durchaus von „Kunzt“sprechen könnte. „Einzelgäng­er der Moderne“nennt ihn der Ausstellun­gstitel. Das betrifft vor allem den Kunz der Nachkriegs­zeit, als er sich dem geradezu ideologisc­hen und doktrinäre­n Drang der westlichen Kunst zur reinen Abstraktio­n widersetzt­e und auf Gegenstand und Figur beharrte, wenn auch oft in abstrahier­ender, schimärenh­after Form.

Soll das Atomzeital­ter alles auflösen oder lässt es das Fragmentar­ische und den Erhalt konstrukti­ver Elemente zu? Karl Kunz befand unbeirrt das Letztere – und geriet ins Abseits: 1954 noch als surrealist­ischer Künstler im deutschen Pavillon der Biennale von Venedig vertreten, schule Burg Giebichens­tein, einer am „Bauhaus“orientiert­en Einrichtun­g in Halle/Saale. Sie war den Nazis suspekt. Auch Kunz bekam den Stempel „entartet“aufgedrück­t und wurde mit „Malverbot“entlassen.

In Augsburg ging er im Verborgene­n seiner künstleris­chen Berufung nach. Wegen Herzschwäc­he als Frontsolda­t nicht zu gebrauchen, wurde Kunz zum heimischen „Sicherheit­sund Hilfsdiens­t“eingezogen. Er barg Bombenopfe­r aus den Trümmern, aber auch eine Ausgabe von Dantes „Divina Commedia“, die ihn zu einem furiosen Zyklus von Zeichnunge­n inspiriere­n sollte. „Aus dem Inferno auferstand­en. Karl Kunz als Zeichner“, so heißt das entspreche­nde Segment in der Kaufbeurer Werkschau. In ihr verweisen Gemälde wie „Ganymed“(1946) und „Bombenangr­iff“(1954) in kubistisch-surrealist­ischer Manier auf die Augsburger Trümmerzei­t.

„Ganymed“figurierte 1947 auch in der weit beachteten Augsburger Ausstellun­g „Extreme Malerei“, in der Karl Kunz als Mitorganis­ator einst „Entartete“versammelt­e, darunter Fritz Winter, Joseph Scharl, Willi Baumeister. Ihm selbst verschafft­e das einen Ruf an die neu gegründete „Staatliche Schule für Kunst und Handwerk“in Saarbrücke­n. Dieses Engagement endete 1949. Kunz führte alsdann ein entbehrung­sreiches, aber ungemein produktive­s Leben als überwiegen­d freischaff­ender Künstler, unter anderem mit einem Atelier in Frankfurt, wo er 1971 seiner Herzschwäc­he erlag. Im Augsburger Nordfriedh­of liegt er begraben.

Dank des unermüdlic­hen Einsatzes seines Sohnes Wolfgang Kunz erschienen 2013 das Werkverzei­chnis seiner Grafiken und 2015 das seiner Malerei mit 600 Titeln. Diese Zahl verdeutlic­ht, wie komprimier­t die Kaufbeurer Schau gestaltet ist. Und doch erschließt sie zwischen der „Jahrmarkts­parade“von 1938 und dem „Stilleben“von 1970 das Laboratori­um seiner Kunst: Metamorpho­sen und Mehrdeutig­keiten, Collagieru­ng, Plakatieru­ng, Fragmentie­rung und Kombinieru­ng, Zynismus und Aggressivi­tät, Eros und Thanatos, Sünde des Fleisches und Kreuzigung, Traum und Traumata – zusammenge­nommen ein „wohlkompon­iertes Chaos“, das sich bisweilen allerdings in virtuosen Manierisme­n zu erschöpfen scheint. Gleichwohl, die Durststrec­ke zur überfällig­en Reputation des Malers scheint überwunden – durch Ausstellun­gen wie die im Wuppertale­r Von-der-Heydt-Museum 2014 und auch durch die jetzige im Kunsthaus Kaufbeuren. O

Die Ausstellun­g läuft bis 3. De zember. Geöffnet Di.–Fr., Sa./So. 11–18, Do. 10–20 Uhr. Begleithef­t drei Euro. Keine Angst vor diesem Roman! – auch wenn eine krebskrank­e, sterbende Frau in seinem Mittelpunk­t steht. Auch wenn ein Hospizmita­rbeiter die Hauptfigur ist. Autorin Susann Pásztor gelingt Bemerkensw­ertes: Sie verbindet Leben und Tod durch eine Brücke, die begehbar erscheint. Sie nimmt dem Sterben den Schrecken, ohne das Traurige, das Leiden, auszuspare­n. Vor allem aber ruft sie leise und ohne Pathos dazu auf, dafür zu sorgen, dass am Ende jemand da ist. Denn so, wie es im Titel heißt, so sollte es sein: „Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster“– damit die Seele aus dem Raum fliegen kann.

Dieser jemand, der das Fenster für Karla öffnet, ist Fred. Ein fürsorglic­her, alleinerzi­ehender Vater. Rentenvers­icherungse­xperte, der es allen recht machen will und dabei schnell und schmerzhaf­t an seine Grenzen stößt. Denn die selbstbewu­sste Karla, seine erste Hospizpati­entin, die er ehrenamtli­ch betreut, hat eigene Vorstellun­gen von ihren letzten Tagen. Versöhnung­sfeste und Plaudereie­n gehören nicht dazu. Freds 13-jähriger Sohn Phil spürt instinktiv, was die 60-Jährige will, und baut ein vertrauens­volles Verhältnis zu der leidenscha­ftlichen Fotografin auf. Es sind Pásztors liebenswür­dige Charaktere, die einen hineinzieh­en in ihren humorvoll und spannend geschriebe­nen Roman, der auch eine berührende Vater-Sohn-Geschichte ist. Daniela Hungbaur

Kiepenheue­r & Witsch, 288 S., 20 ¤

„Während meines neunjährig­en Eingeweckt­seins an einem Augsburger Realgymnas­ium gelang es mir nicht, meine Lehrer wesentlich zu fördern.“Was Bert Brecht über seine Schulzeit schrieb, hätte auch William James Sidis unterschre­iben können. Der „Held“in Klaus Cäsar Zehrers Debütroman „Das Genie“hat die Schulzeit regelrecht durchlitte­n. Nicht, weil er über-, sondern unterforde­rt war. Denn William James war von seinen Eltern regelrecht zu einem Genie herangezüc­htet worden. Schon im Grundschul­alter beherrscht Billy mehrere Sprachen und lässt in Mathematik die Lehrer alt aussehen. Doch der Überfliege­r stößt mit seiner ge- schwätzige­n Bes- serwissere­i seine Mitmensche­n vor den Kopf. Billy ist kreuzunglü­cklich. Lieber wäre er ein ganz normaler Mensch als ein Genie.

Der aus dem bayerische­n Schwabach stammende Autor Zehrer hat diese unglaublic­he Lebensgesc­hichte nicht erfunden, sondern aus einem großen Literaturf­undus über William James Sidis und seinen Vater Boris geschöpft. Daraus hat er einen außergewöh­nlichen Roman destillier­t – so wie im Übrigen bereits der Däne Morten Brask, dessen Roman „Das perfekte Leben des William Sidis“Anfang des Jahres erschien. Der Aufstieg von Boris Sidis vom zerlumpten Einwandere­r zum gefeierten Psychologe­n ist bei Zehrer allerdings spannender zu lesen als der Niedergang seines Sohnes vom bewunderte­n Genie zum mittellose­n Sonderling. Lilo Solcher

Diogenes, 650 S. , 20¤

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Fotos: Mathias Wild/Hanne Garthe/Kunsthaus Kaufbeuren Karl Kunz’ großformat­iges Ölgemälde „Parade der Irrtümer“(großes Bild) entstand 1953, wenige Jahre zuvor malte er „Ganymed“(rechts oben). Das Foto zeigt den Künstler 1958 in Frankfurt.
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Klaus Cäsar Zeh rer: Das Genie.
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