Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe (37)
GAus: Bernhard Schlink © 2014 by Diogenes Verlag AG Zürich
ut“, sagte ich, und wir fuhren hinunter an die Küste und an der Küste entlang nach San Francisco. Irene hatte Die Vögel gesehen, und in Bodega zeigte ich ihr das Schulhaus aus dem Film.
Dann gingen wir an den Strand und am Meer entlang, und ich erzählte ihr von den Wellen, die sich überraschend aus dem ruhigen Wasser aufbäumen und den, der zu nahe am Wasser läuft, wegreißen und nicht mehr hergeben.
Auf einmal hatte ich Angst um sie. Sie hatte keine Wahl, sie musste nahe an der Gefahr laufen, und der Krebs würde sie wegreißen und nicht mehr hergeben.
Als wir über die Golden-GateBrücke fuhren, ging die Sonne unter. Sie tauchte in den Nebel ein, und von einem Moment auf den anderen lag der Pazifik grau, unbarmherzig, abweisend. Aber die Stadt leuchtete noch, und ich hätte gerne gehabt, dass im Radio das Lied spielt, das ich einmal gehört und gemocht habe und in dem es um San
Francisco oder Kalifornien oder beides geht, kam aber nicht auf den Titel und erinnerte mich nur noch an Bruchstücke der Melodie. Ich sang sie Irene vor, und auch sie kannte das Lied, erinnerte sich aber auch nicht mehr an den Titel. Aber sei’s drum – wir waren angekommen.
„Wir sind da.“Ich lächelte Irene an.
„Ja“, lächelte sie zurück, „wir sind da.“
Ich war in meinem Leben nicht oft krank. Wenn ich es war, habe ich mich so verhalten, wie meine Großeltern es mich gelehrt haben: möglichst wenig Arbeit machen, möglichst wenig brauchen, möglichst wenig wünschen. Es ist schlimm genug, dass man, wenn krank, nicht funktioniert; das Funktionieren der anderen soll dadurch nicht mehr als nötig beeinträchtigt werden. So haben meine Frau und ich es auch in unserer Familie gehalten. Und haben wir nicht allen Grund, zufrieden und dankbar zu sein, wenn wir krank im Bett liegen dürfen, statt, wie die Menschen im Krieg, krank in nassen Schützengräben kämpfen oder in Schnee und Eis fliehen oder in kalten Kellern auf die Bomben warten zu müssen?
Anfangs war Irene ähnlich. Sie bat mich nur, wenn sie anders tatsächlich hilflos war, und war dann sichtlich verlegen, entschuldigte sich und bedankte sich. Mit jedem Tag wurde meine Hilfe selbstverständlicher und hatte Irene mehr Bedürfnisse und mehr Wünsche. Statt dreier großer Mahlzeiten viele kleine, statt der Alternative des Betts im Schlafzimmer und des Betts auf dem Balkon auch das Bett auf dieser und auf jener Seite des Balkons und unter dem Vordach des Hauses am Strand und unter der Akazie neben der Treppe, statt der Bitte um das Glas Wasser „ich bin durstig“und statt „danke“ein Lächeln oder auch nichts. Wenn ihr übel war, das Erbrechen keine Erleichterung brachte, sie weiter würgen und spucken musste und der Eimer zu weit weg stand oder kein Taschentuch bereitlag oder ich sie nicht richtig stützte, fuhr sie mich an.
Ich tat mich damit nicht leicht. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie so behandelt werden wollte. Wie kam sie dazu, mich so zu behandeln? Geben einem Krebs oder der nahe Tod besondere Rechte? Ich sah es nicht ein, und ich bleibe auch entschlossen, in entsprechender Lage keine besonderen Rechte zu beanspruchen. Aber vielleicht konnte ich nicht, wie ich es getan hatte, ihre verlegenen Bitten und ihren verlegenen Dank abwehren und sagen, alles sei selbstverständlich, und mich dann nicht beim Wort nehmen lassen. Vielleicht war es schön, dass meine Hilfe ihr selbstverständlich geworden war. Vielleicht ist Fairness nicht immer das Wichtigste.
Am Abend nach unserer Ankunft in San Francisco war sie wieder anders. Sie bat, wenn ihr etwas fehlte, und dankte, wenn sie es bekam, und entschuldigte sich für die Mühe, die sie machte. Es war, als wolle sie wieder Distanz zwischen uns schaffen und mich zum Gegenüber machen, mit dem sie nicht schon verbunden war und dem sie sich auch entziehen konnte.
Sie erinnerte mich an meine kleine Tochter, die im Sommer im Ferienlager gelernt hatte, dass sie auch ohne uns zurechtkam, und uns nach der Rückkehr spüren ließ, dass sie selbständig war und dass wir ihre Zugehörigkeit nicht als Selbstverständlichkeit nehmen sollten. Irene fremdelte.
„Ich schaffe es alleine“, sagte sie, als sie nach dem Abendessen aufstand und zur Treppe ging.
„Wo willst du schlafen?“ „Auf dem Balkon.“Sie ging die Treppe hoch, langsam, schwerfällig, vornübergebeugt, mit den Händen auf die Stufen gestützt. Ich stand bereit, ihr beizuspringen, aber sie brauchte mich nicht.
Ich spülte das Geschirr ab, räumte die Küche auf und deckte den Tisch für den Morgen. Dann schenkte ich mir den Rest aus der Flasche ein und ging mit dem Glas auf den Balkon. Ich hörte Irene vom Schlafzimmer ins Badezimmer gehen, duschen und ins Schlafzimmer zurückkehren. Es war heiß, wie den Tag über und die Nacht davor und den Tag davor, und ich merkte, dass ich die Hitze der Nacht mochte. Die Hitze, die ihre Aggressivität abgelegt hat und nicht geringer, aber gleichmütig geworden ist.
Dann hörte ich Irene rufen und ging in die Küche.
Sie kam die Treppe herab. Mit der rechten Hand berührte sie tastend die Wand, um sich stützen zu können, wenn sie es brauchen sollte, aber sie hielt sich aufrecht und setzte sicher Fuß vor Fuß. Sie trug den Kopf leicht geneigt und sah mich an. Sie war nackt.
Was ging mir in den Sekunden, in denen sie die Treppe herabkam, nicht alles durch den Kopf! Dass sie ihr letztes Kokain genommen haben musste.
Wie blass, totenblass ihr Körper neben dem Sonnenbraun von Gesicht, Hals und Armen aussah. Wie müde er war, mit den müden Brüsten und der müden Haut um den Bauch, und zugleich wie schön und dass müde Schönheit doch Schönheit bleibt.
Was die Halbwüchsigen in der Art Gallery über ihre Hüften, Schenkel und Füße gesagt hatten und wie falsch es war. Was ich über Sanftmut und Verführung, Widerstand und Verweigerung phantasiert hatte und dass sie einfach eine Frau mit einem eigenen Leben war. Wie mutig sie ihr Leben gelebt hatte und wie ängstlich ich meines. Dass sie den Kindern, die sie aufgenommen hatte, mehr Liebe erwiesen hatte als ich meinen. Dass die Müdigkeit ihres Körpers mich rührte. Wie nahe Rührung und Begehren waren.
Sie sprach mit den Augen. Dass sie eine Rolle für mich spielte, aber nicht Theater, dass wir beide wussten, dass sie nicht die junge, sondern eine alte Irene war, wie ich nicht jung war, sondern alt, dass sie an diesem Punkt in ihrem Leben nicht mehr viel geben konnte außer Liebe und dass sie mich einlud, das auch zu tun und mir einzugestehen, dass es das war, was ich wollte. Dass sie aber auch das Spiel genoss, das Selbstzitat, meinen bewundernden Blick.