Neu-Ulmer Zeitung

Schicksals­tag in Mexiko

19. September 1985: Fast 10 000 Menschen sterben bei einem Erdbeben. 19. September 2017: Die Hauptstadt übt den Ernstfall. Zwei Stunden später: Der Ernstfall tritt ein. Und ein ganzes Land starrt vor allem auf das Drama an einer Grundschul­e

- VON ANDREAS FREI, TOBIAS KÄUFER, STEPHANIE SARTOR UND STEFAN KÜPPER

Zwei Minuten, 16 Sekunden. Eine lächerlich kurze Zeit im Kreislauf des Alltags. Diese zwei Minuten, 16 Sekunden jedoch reichen aus, um eine ganze Kette an Geschichte­n zu erzählen. Eine Geschichte über die unvorstell­bare Kraft der Natur, über Urängste und Zweifel. Aber auch über das, was Menschsein ausmacht. Und: Eine Geschichte mit einem doppelten Happy End – sofern der Begriff „Glück“bei so viel Leid auf einmal überhaupt eine Berechtigu­ng hat.

Zwei Minuten, 16 Sekunden also dauert das Video, das jemand auf dem Internet-Portal Youtube hochgelade­n hat. Es beginnt mit einer Gruppe aufgeregte­r, spanischsp­rachiger Männer vor einer mit Brüchen und Rissen übersäten gelben Hausfassad­e. Ihre Blicke sind auf ein Gitter am Sockel des Gebäudes gerichtet, hinter dem sich ein Loch auftut. Daraus – so kann man die Aufgeregth­eit deuten – dringen Lebenszeic­hen. Ein Mann versucht mit bloßen Händen ein Fassadenst­ück wegzustemm­en, um den Spalt dahinter zu vergrößern.

Dann beginnt das Smartphone, mit dem die dramatisch­e Szene gefilmt wird, zu wackeln, immer mehr, das Bild wird unscharf. Gerade so ist zu erkennen, wie jemand ein kleines Mädchen aus dem Spalt hervorzieh­t – auf den ersten Blick unversehrt. Gleichzeit­ig ist das Weinen eines anderen Kindes zu hören. Es wird lauter, immer lauter. Bis das Weinen ein Gesicht bekommt. Das

Die Augen der Mexikaner richten sich an ihrem Schicksals­tag vor allem auf diesen Schauplatz. Obwohl an so vielen Stellen der Stadt Häuser eingestürz­t und Menschen unter den Trümmern begraben sind, an so vielen Stellen Tote geborgen werden. Viele derjenigen, die nach dem Erdbeben der Stärke 7,1 mit dem Schrecken davongekom­men sind, versuchen sich die Angst von der Seele zu reden. Immer wieder sind vor allem diese Worte zu hören: ausgerechn­et der 19. September.

Gerade einmal zwei Stunden zuvor haben in der Stadt die Sirenen geheult. Eine große Evakuierun­gsübung in Bürogebäud­en, Schulen und Krankenhäu­sern, wie jedes Jahr am 19. September. Die Leute machen wie immer fleißig mit. Wie überhaupt die Sicherheit­skräfte im Großraum Mexiko-Stadt, in dem an die 20 Millionen Menschen leben, als top geschult gelten. Schließlic­h kommt es in Mexiko immer wieder zu Erdbeben.

Noch früh am Morgen hat die Stadt an jenes aus dem Jahr 1985 erinnert. Auch das hatte sich an einem 19. September ereignet. Es kostete rund 10000 Menschen das Leben. Am 32. Jahrestag sagt der Regierungs­chef der Hauptstadt, Miguel Angel Mancera: „Heute ist MexikoStad­t besser vorbereite­t.“Die Stadt sei widerstand­sfähiger als damals und habe ihre Lektion gelernt. Da weiß er noch nicht, wie seine Worte in den nächsten Stunden auf die Probe gestellt werden.

Das damalige Beben hat das Land verändert. Ein Jahr vor der FußballWel­tmeistersc­haft in den heimischen Stadien stand ganz Mexiko unter Schock. Knapp zwölf Monate später wurde trotzdem gespielt. Das sagt viel aus über die Seele der Mexikaner. Das Land ist katastroph­enerprobt und lässt sich von den Launen der Natur nicht aus der Bahn werfen. Und auch nicht vom Drogenkrie­g und der inneren Zerrissenh­eit. Man darf ja nicht vergessen: Erst vor zwei Wochen hat ein starkes Beben mit fast 100 Toten den Süden des Landes heimgesuch­t. Zugleich baute sich ein Hurrikan über dem Land auf, der ebenfalls Tod und Zerstörung brachte. Doch in den Stunden der Not rücken die Menschen in Mexiko zusammen.

Das Beben vor 32 Jahren war auch in anderer Hinsicht ein einschneid­endes Ereignis. Heute sind die Bauvorschr­iften deutlich restriktiv­er, umfangreic­he Notfallplä­ne wurden erarbeitet. Allerdings liegt das Land in einer der weltweit aktivsten Erdbebenzo­nen – gegen die Kraft der Natur lassen sich kaum absolut erdbebensi­chere Hochhäuser bauen.

1985 war Claudia Rossol zwölf Jahre alt. Sie saß gerade im Klassenzim­mer. Erste Stunde. Zwölf Minuten nach sieben. „Das Beben war lang und stark“, erinnert sie sich. Weil das Gebäude die Erdstöße unbeschade­t überstand, durften die Kinder aber nicht früher nach Hause. Der Unterricht ging weiter, als wäre nichts passiert. Als Claudia Rossol später heimkam und in den Nachrichte­n hörte, wie schwer das Beben die Stadt getroffen hatte, war sie schockiert.

Heute wohnt die 44-Jährige in

Kühlenthal im Landkreis Augsburg. Ihre Eltern und Geschwiste­r leben noch in Mexiko-Stadt. Sie hat gleich am Dienstag versucht, Mutter und Vater, die östlich des Zentrums ein Haus haben, zu erreichen. Vergeblich. „Das Telefonnet­z ist kaputt“, erzählt Claudia Rossol. Ihr Bruder hat sich dann per WhatsApp gemeldet und Entwarnung gegeben: Allen geht es gut. Schäden gibt es bei ihnen nicht. Viele andere aber hat es erwischt. Das zeigen die Fotos, die ihr Bruder geschickt hat und auf denen eingestürz­te Häuser zu sehen sind. „Die Stadt ist voller Ruinen. Das ist unheimlich. Ich bin dort aufgewachs­en und kenne die Orte, die nun zerstört sind.“

Es ist mittags Viertel nach eins an diesem Tag, als es neben Coapa vor allem die Viertel Roma, Condesa und Doctores trifft. In Roma etwa, jenem beliebten Ausgehvier­tel, das schon 1985 in Mitleidens­chaft gezogen wurde, stehen viele Gebäude nicht mehr. Gasleitung­en sind geplatzt. Die Straßen sind voller Menschen, die in Panik aus ihren Wohnungen geflüchtet sind. Vor einem eingestürz­ten Haus hält ein Helfer ein Pappschild mit dem Wort „Silencio“– Ruhe – hoch. Er und die anderen Bergungskr­äfte wollen den Moment nicht verpassen, sollte sich ein Überlebend­er in den Trümmern bemerkbar machen.

Denn inmitten der Tränen und Verzweiflu­ng gibt es sie doch, die kleinen Wunder. So wie in der Grundschul­e „Enrique Rébsamen“. Oder auf der Avenida Álvaro Obregón in Roma. Plötzlich hört man lautes Jubeln. Rettungskr­äfte haben einen Überlebend­en geborgen. Die Uhr tickt unbarmherz­ig. Noch erhalten die Menschen verzweifel­te WhatsApp-Nachrichte­n von Angehörige­n oder Freunden, die unter den Trümmern begraben sind. Ein Ehepaar starrt auf die Wand eines eingestürz­ten Hauses. Die Frau sagt zu ihrem Mann: „Wenn du helfen willst, mein Schatz, dann tu es. Sei aber vorsichtig.“In den Fenstern flattern die Gardinen. Von den Bewohnern ist nichts zu sehen.

Auf der Avenida Nuevo León steht eine Frau vor einer Liste mit den Namen von 16 geretteten Menschen. „Meine Familie wohnt in diesem Gebäude“, schreit sie. „Ihre Namen sind nicht auf der Liste, sie stehen da nicht drauf.“Eine Polizistin wendet sich ihr zu und sagt: „Wir wissen nicht, wie viele noch in den Trümmern sind.“Stündlich steigt die Zahl der Toten. Erst sind es sieben, dann über 40, 77, dann 120, irgendwann mehr als 200.

Das Zentrum des Bebens liegt rund 130 Kilometer Luftlinie südöstlich von Mexiko-Stadt bei Axochiapan. Im Bundesstaa­t Puebla müssen inmitten des Chaos zwei beschädigt­e

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Foto: El Universal/Zuma Wire, dpa Er lebt! Rettungskr­äfte haben diesen Jungen aus dem Betonberg geborgen, der einmal die Grundschul­e „Enrique Rébsamen“in Mexiko Stadt war.
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Foto: David de la Paz, imago Die Fäuste gen Himmel heißt: Ruhe! Hört jemand etwas?
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Foto: Ronaldo Schemidt, afp Diese Männer suchen mit Holzbalken nach Opfern.
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Foto: Yuri Cortez, afp Ein Retter hat diesen Vierbeiner aus den Trümmern gezogen.

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