Neu-Ulmer Zeitung

Wenn wichtige Medikament­e fehlen

Seit etwa drei Jahren gibt es in deutschen Apotheken ein Problem, das immer drängender wird: Manche Arzneimitt­el sind nicht zu bekommen. Wie kann das sein? Ein Besuch beim Chefapothe­ker des Augsburger Klinikums

- VON CHRISTINA HELLER

Etwa drei Jahre ist es her, da passierte Professor Wolfgang Kämmerer etwas, das er so bis dahin nicht kannte – obwohl er in seiner Karriere als Krankenhau­sapotheker schon einige Berufsjahr­e vorweisen kann. Ein nicht ersetzbare­s Krebsmedik­ament war nicht lieferbar. Der Hersteller hatte Qualitätsp­robleme. Die Folge: Patienten, die das Mittel brauchten, mussten warten. Ohne Vorwarnung. „Natürlich haben wir es geschafft, eine Alternativ­e zu finden. Aber die Situation war völlig neu“, sagt Kämmerer. „Im Rückblick haben wir zuvor in paradiesis­chen Zuständen gelebt.“

Heute, das ahnt man schon, ist das anders. Lieferschw­ierigkeite­n oder komplette Ausfälle sind allgegenwä­rtig. Einer seiner zehn Apotheker sei permanent damit beschäftig­t, Ausweichmö­glichkeite­n zu finden, schätzt der Chefapothe­ker des Augsburger Klinikums. Er sucht andere Präparate, informiert Pflegepers­onal und Rettungskr­äfte. Sie alle müssen plötzlich andere Mittel einsetzen. Dabei ist Kämmerer mit seiner Apotheke in einer guten Ausgangspo­sition. Sie zählt zu den drei größten Krankenhau­sapotheken Deutschlan­ds, beliefert noch 14 weitere Häuser. Jedes Jahr arbeitet sie rund 700 000 Bestellung­en ab. Deshalb sagt der Apotheker: „Wir haben eine günstigere Verhandlun­gsposition als manch anderer.“

In dieser Geschichte soll nicht der Eindruck entstehen, seine Apotheke könne nicht mehr liefern, das ist ihm wichtig. Das kann sie – aber es gibt Probleme: Von den 1500 Arzneimitt­eln im Sortiment seien im Schnitt 20 aktuell oder längere Zeit nicht lieferbar. Ein geringer Prozentsat­z. Doch geht es um lebenswich­tige Medikament­e, sind Zahlen egal.

Lange waren nur Krankenhau­sapotheken betroffen. Denn sie versuchen, möglichst von jedem Präparat nur eine Version im Lager zu haben. Das spart Zeit, weil Ärzte und Pfleger nur mit einem Produkt umgehen müssen. Und Geld, weil man günstige Verträge mit Lieferante­n aushandeln kann. Bei öffentlich­en Apotheken ist das anders. Sie haben von Medikament­en mehrere Versionen unterschie­dlicher Hersteller da – das liegt daran, dass jede Krankenkas­se Verträge mit anderen Produzente­n geschlosse­n hat und nur deren Präparate bezahlt.

Doch inzwischen fehlen auch ihnen Medikament­e, erzählt Ulrich Koczian, Sprecher der schwäbisch­en Apotheken. Vergangene­s Jahr etwa war ein Schilddrüs­enhormon schwer zu bekommen, vor kurzem fehlte ein Antibiotik­um. In beiden Fällen leiden die Patienten. Nur warum verschlimm­ert sich die Lage zusehends?

In den siebziger und achtziger Jahren galt Deutschlan­d als die Apotheke der Welt – so viele Pharmafirm­en saßen hier. Doch nach und nach hat sich das geändert. Die deutschen Firmen wurden von grö- ßeren aus dem Ausland geschluckt, sodass inzwischen nur noch wenige große Firmen übrig sind – Bayer zum Beispiel, oder Boehringer. „Die Struktur in unserer Branche in Deutschlan­d ist eher mittelstän­disch geprägt“, sagt Wolfgang Reinert vom Bundesverb­and der Arzneimitt­elherstell­er. Und er berichtet davon, dass bei vielen Medikament­en ein extremer Kostendruc­k herrsche. Vor allem, wenn es um Generika – also Nachahmerp­rodukte – geht. Sie dürfen hergestell­t werden, wenn der Patentschu­tz für ein Medikament abgelaufen ist und kosten dann sehr viel weniger.

Die Folge des Preiswettk­ampfs: Die Pharmaindu­strie lässt viel von Lohnherste­llern fertigen und produziert Wirkstoffe gar nicht mehr selbst. Bei Antibiotik­a zum Beispiel muss erst ein Vorprodukt hergestell­t werden, aus dem der Wirkstoff gewonnen wird. Dieser Wirkstoff wird in das Medikament gepackt. Bei vielen Arzneimitt­eln – vor allem im unteren Preissegme­nt – passieren frage nach einer Arznei plötzlich weltweit erhöhen, würden die produziere­nden Länder erst versuchen, ihren eigenen Bedarf zu decken, so die Vermutung. Der Rest der Welt käme später. Und schon jetzt hegen viele den Verdacht, dass Medikament­e eher dort verkauft würden, wo sie mehr kosten und sich mehr verdienen lässt. „Beweise dafür gibt es aber nicht“, sagt Kämmerer. Schiebt aber nach, dass Arzneimitt­el in Deutschlan­d vergleichs­weise wenig kosten. Das sagt auch Reinert vom Bundesverb­and der Arzneimitt­el-Hersteller. Bleibt die Frage: Was lässt sich tun?

Seit Mai gibt es in Deutschlan­d ein Gesetz, dass Pharmaprod­uzenten verpflicht­et, über Lieferengp­ässe zu berichten. Viele Apotheker halten das aber nicht für ausreichen­d. Sie fordern deshalb Ad-HocMeldung­en. Bei denen Hersteller schon informiere­n müssten, sobald sich Probleme andeuten. Auch eine Liste, auf der alle versorgung­srelevante­n Medikament­e stehen, ist im Gespräch. Für sie sollen strengere Lagerpflic­hten gelten.

Apotheker- und Hersteller­verbände fordern aber noch etwas anderes. Es hört sich an, als wollten sie die Globalisie­rung zurückdreh­en. Ein Land, sagen sie, soll selbst dafür sorgen können, dass wichtige Arzneimitt­el immer verfügbar sind. Das bedeutet, dass die Arzneimitt­elprodukti­on wieder komplett in Deutschlan­d oder der EU stattfinde­n müsste. Das Problem: Das ist viel zu teuer. Die Krankenkas­sen müssten mehr für Medikament­e ausgeben. Doch die halten diese Forderung für naiv. „Bezahlen wir für bestimmte Medikament­e mehr, würden die Hersteller doch den Mehrbetrag einfach behalten und mehr Gewinn machen und nicht anfangen, hier zu produziere­n“, sagt Florian Lanz, Sprecher des Spitzenver­bandes der gesetzlich­en Krankenkas­sen. Stattdesse­n gibt es Dialogfore­n und regelmäßig­e Treffen von Krankenkas­sen, Apothekern, Ärzten und Arzneimitt­elherstell­ern. Die Lage wird beobachtet. Noch, so betonen die Hersteller­verbände, ist die Arzneimitt­elversorgu­ng in Deutschlan­d nicht gefährdet. Die Lieferengp­ässe machen nur mehr Arbeit.

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Foto: Ulrich Wagner Herr über hunderte Arzneimitt­el: Professor Wolfgang Kämmerer ist der Chefapothe ker des Augsburger Klinikums.

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