Neu-Ulmer Zeitung

Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe (41)

- Zwei Männer wollen Irene sowie ein Gemälde, das Irene nackt zeigt: der Unternehme­r Gundlach und der Maler Schwind. Ein Anwalt soll vermitteln; er lernt ebenfalls, Irene zu lieben… Die Frau auf der Treppe

EAus: Bernhard Schlink © 2014 by Diogenes Verlag AG Zürich

r war hinter dem brachen Grundstück, auf dem bis 1938 die Synagoge gestanden hatte, ein kleiner länglicher Platz mit Bäumen und Bänken und einem Sandkasten.

Ich erinnere mich, dass es Abend war und dunkel wurde. Meine Mutter saß mit mir im Sandkasten und baute eine Burg. Sie hatte ein flaches Stück Holz mitgebrach­t, und ihr gelang, es im Turm als Decke auf den ersten Stock zu setzen und darauf einen zweiten Stock zu bauen. Sie hatte in einem Eimerchen Wasser mitgebrach­t, das half, aber trotzdem war es ein Wunderwerk: Im zweiten Stock konnte man von der Tür in den Raum und an der anderen Seite aus dem Fenster sehen. Sie arbeitete mit äußerster Konzentrat­ion und war in das Projekt vertieft, als sei ich nicht da. Trotzdem war ich überglückl­ich. Sie war mit mir, nur mit mir, und machte etwas für mich, nur für mich.

Als es dunkel war, war sie fertig. Die Laternen gingen an, Gaslaterne­n mit weichem Licht, und wir saßen

und sahen die Burg an. Sie hatte sicher einen Wall und das eine und andere Gebäude, aber ich erinnere mich vor allem an den Turm mit den zwei Geschossen, und ich sah Rapunzel ihr Haar herunterla­ssen und den Prinzen zu ihr hochklette­rn. Dann schaute ich auf, und ein kleines blondes Mädchen stand neben mir und sah auch auf die Burg, aus hellen graublauen Augen und mit einem verwundert­en, ein bisschen schiefen Lächeln. Sie?…“

„Das denkst du dir jetzt aus.“Irene sagte es freundlich tadelnd.

„Ja. Das Seltsame ist, dass ich nicht weiß, ob ich mir nicht die ganze Erinnerung ausgedacht habe. Es gab den Spielplatz, aber warum erinnere ich mich nicht, dass meine Mutter sonst mit mir gespielt hat, zu Hause oder draußen, und warum sollte sie es an dem einen Abend getan haben? Sie war auch nicht besonders geschickt, und sie war ungeduldig, viel zu ungeduldig, einen zweigescho­ssigen Turm aus Sand zu bauen. Sie hat mir manchmal Mär- chen vorgelesen. Habe ich mein eigenes Märchen phantasier­t? Aber das Geschehen ist in meiner Erinnerung nicht Phantasie, sondern Wirklichke­it, und ich sehe alles genau vor mir: den Sandkasten, meine Mutter im blauen Kleid, die Burg in der Dämmerung, dann in der Dunkelheit und dann im Licht der Laternen.“

„Wie alt warst du, als deine Mutter gestorben ist?“

„Vier. Es muss kurz danach gewesen sein.“„Woran ist sie gestorben?“„Sie ist gegen einen Baum gefahren.“

Irene sah mich an, als warte sie darauf, dass ich mehr sagen würde.

„Sie war eine gute Fahrerin. Manchmal hat sie mich mitgenomme­n, ich saß oder stand neben ihr auf dem Beifahrers­itz, Sicherheit­sgurte und Kindersitz­e gab es noch nicht, und ich liebte, wenn sie schnell fuhr, und fühlte mich völlig sicher.“Irene wartete weiter. „Die Großeltern sagten einmal, sie habe unter Alkohol gestanden. Sie sei Alkoholike­rin gewesen. Aber die Großeltern waren gegen die Ehe, sie mochten meine Mutter nicht und haben nur schlecht über sie geredet. Ich hätte gerochen, wenn sie Alkoholike­rin gewesen wäre. Kinder riechen das.“

Irene nahm meine Hand. Sie sagte nichts, aber ich wusste auch so, was sie dachte. Wie deine Frau, dachte sie. Ich mochte den Gedanken nicht, aber ihre Augen wurden schwer, und ich fand besser, dass sie den Gedanken verschlief, als dass ich ihm widersprac­h. Sie schlief ein, und ich hielt ihre Hand und grollte ihr.

Dann roch auch ich Rauch. Er hatte den scharfen, süßen Geruch von Eukalyptus, war schwach und doch eindringli­ch, berauschen­d. Ich stand auf und sah mich um, sah aber keinen Rauch und kein Feuer. Die Berge, die Bucht, die Bäume, das Gesträuch, die Mole, das Meer – alles war wie immer.

Plötzlich stand Kari neben mir und bedeutete mir mitzukomme­n. Ich schrieb Irene einen Zettel, dass Kari gekommen sei und mir etwas zeigen wolle. Ich dachte, wir würden den Jeep nehmen, aber Kari winkte ab.

Er eilte mit schnellen, leichten Schritten den Berg hinan, und ich hatte Mühe zu folgen. Ich kannte nur den Weg, den der Jeep durch die Berge nahe der Küste in die hügelige Ebene nahm, in der die beiden Höfe lagen. Kari führte mich auf einem Pfad auf einen der Berge. Es ging immer höher, die Bucht lag klein und blau und wie eine Illustrati­on zu Robinson Crusoe oder zur Schatzinse­l unter uns. Nach einer halben Stunde waren wir auf dem Gipfel.

Der Blick ging weit, bis zum Bergzug jenseits der Ebene. Noch ehe ich das Feuer sah, gelbrote Flecken und Linien an den Bergen, sah ich den Rauch, der in schwarzen Schwaden in den klaren Himmel quoll. Wenn er über eine Schlucht zog, in der es brannte, leuchtete er gelbrot.

Er leuchtete auch, wenn er über einen Berg kam, dessen hintere Seite schon in Flammen stand; das Gelbrot kündigte an, dass das Feuer bald den Gipfel erreichen und ihm eine Krone lodernder Flammen aufsetzen würde. Dann fraß es sich den Berg hinab und hatte, wenn es unten ankam, oben schon alles verzehrt und nur ein bisschen Glut und das Schwarz der Asche und des verkohlten Holzes zurückgela­ssen.

Auf den Abschnitte­n des Highway, die sichtbar waren, fuhren Feuerwehra­utos mit blinkenden Lichtern. Darüber flogen Hubschraub­er. „Kommt das Feuer zu uns?“„Die Ebene ist weit. Aber sie ist trocken, und wenn das Feuer über den Highway springt?…“Kari zuckte die Schultern. „Dann?“„Ich weiß nicht. Es kommt auf den Wind an. Noch riechen wir nicht viel und haben nicht viel Rauch – der Wind ist noch schwach. Aber wenn er stärker wird?…“

„Hast du hier schon mal ein Feuer erlebt?“

„Nein, hier nicht. Aber weiter im Norden. Das Feuer, das den Wind macht, und den Wind, der das Feuer treibt.“

„O Gott!“Ich sah am Fuß der Berge einen Ort in Flammen stehen. Der, in dem Meredene und ich eingekauft hatten?

Kari blieb auf dem Gipfel, ich ging zu Irene. Sie war wach. „Ich weiß. Es brennt drüben in den Bergen. Was Meredene und ihre Familie und die beiden Alten wohl machen?“

„Sie können zu uns. Außerdem läuft auf dem Highway der Verkehr, man nimmt sie mit.“„Und die Tiere?“Ich stellte mir vor, eines der Kinder würde die Tiere zu uns in die Bucht treiben und, wenn das Feuer käme, ins Wasser. Ich hörte schon das Muhen der Kühe und das Quieken der Schweine und das Gackern der Hühner. Aber niemand kam, nicht die Bewohner der beiden Höfe und nicht die Tiere. Ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist.

Um uns machte ich mir keine Sorgen. An der Mole lag das Boot, ich tankte es auf, ließ den Motor an, und er lief gleichmäßi­g und verlässlic­h.

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