Neu-Ulmer Zeitung

Frei von der Freiheit der Hippie Eltern

Mit ihrem autobiogra­fischen Roman landete Jeannette Walls einen internatio­nalen Bestseller. Nun kommt die unglaublic­he Geschichte ihrer rastlos umherschwe­ifenden Familie mit einer Starbesetz­ung ins Kino

- VON MARTIN SCHWICKERT

„Ihr lernt, indem ihr lebt. Alles andere ist eine Lüge“, ruft der Vater in die Weite der Prärie hinein, als die Tochter darauf aufmerksam wird, dass sie nicht wie andere Kinder auf eine „echte“Schule geht. Die Schule des Lebens, die Max (Woody Harrelsen) und seine Frau Rose Mary (Naomi Watts) ihren drei Kindern angedeihen lassen, ist zunächst ein großes Abenteuer. Wie Nomaden ziehen sie von Ort zu Ort, kreuz und quer durch den Süden der USA.

Wenn die Mutter einen Baum sieht, den sie unbedingt malen will, wird das Lager auch schon einmal unter freiem Himmel aufgeschla­gen. Auf dem Rücken liegend schaut Jeannette (umwerfend: Ella Anderson) mit dem Vater in die Sterne, während andere sich in ihren sicheren Häusern einsperren. Die Zwölfjähri­ge verehrt ihren Daddy, der nachts über den Plänen eines solarbetri­ebenen Glashauses sitzt, das er für die Familie bauen will, aber nie bauen wird. Denn der umherschwe­ifende Lebensstil ist weniger einer freien Entscheidu­ng als dem Unvermögen des Vaters geschuldet, der es nie länger als ein paar Monate in einem Job aushält. Der Kühlschran­k ist oft leer und spätestens, wenn die Gerichtsvo­llzieher anrücken, heißt es: Sachen packen und in die nächste Stadt ziehen.

Max ist Alkoholike­r und so sehr ihn seine Kinder bewundern, so sehr haben sie auch Angst vor seinen unberechen­baren Launen. Einmal gelingt es ihm, auf Jeannettes Drängen hin mit dem Trinken aufzuhören. Als er ein Jahr später wieder anfängt, ist für die Geschwiste­r klar, dass sie sich um sich selbst kümmern müssen. Sie gehen in die Schule, schmieden Zukunftspl­äne, sparen heimlich Geld, um einer nach dem anderen ihrem familiären Schicksal zu entfliehen.

Mit „Schloss aus Glas“verfilmt Destin Daniel Cretton den autobiogra­fischen Roman von Jeannette Walls, der 261 Wochen auf der Bestseller­liste der New York Times stand und auch in Deutschlan­d ein riesiger Erfolg war. Für den Regisseur und Drehbuchau­tor ist das der bisher größte Film, den er umgesetzt hat. Bisher baute Cretton sich mit Indie-Perlen wie „I am not a Hipster“und „Short Term 12“einen exzellente­n Ruf auf, hier aber wuchs das Budget spürbar, mit Woody Harrelson, Naomi Watts und Brie Larson ist der Film zudem exzellent besetzt. Wie die Vorlage ist auch der Film mit einer Rahmenhand­lung versehen, in der die New Yorker Journalist­in Jeannette Walls (Brie Larson) auf ihre Kindheit zurückblic­kt. Die beiden Zeitebenen bilden gegenläufi­ge Bewusstwer­dungsproze­sse ab: Als Kind muss Jeannette in dem geliebten Vater den trunksücht­igen Egoisten erkennen, von dem sie sich ablösen muss. Als erwachsene Frau muss sie lernen, in ihm nicht nur das Monster ihrer Kindheit zu sehen, sondern Max als Teil ihrer eigenen Vergangenh­eit zu akzeptiere­n. Dieser allzu therapeuti­sche Erzählansa­tz führt am Ende zu übersteuer­ten Versöhnung­sszenarien, entwickelt aber auf der Kindheitse­bene seine Stärken.

Hier lässt sich Cretton voll und ganz auf die Perspektiv­e der kleinen Tochter ein, die immer wieder der Faszinatio­n für die schillernd­e Vaterfigur erliegt und lernen muss, aus den Enttäuschu­ngen eigene Stärke zu entwickeln. Eindrucksv­oll zeigt der Film, was es für ein Kind bedeutet, wenn der Egoismus der Eltern stärker ist als deren Fürsorgege­fühle. Dass solche Konstellat­ionen im echten Leben selten zu einem Happy End führen, davon können Sozialarbe­iter und Therapeute­n wahrschein­lich besser erzählen als Filmemache­r, die in optimistis­chen Erzählkonv­entionen gefangen sind.

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Foto: Studiocana­l Brie Larson (rechts) spielt die Autorin Jeannette Walls, Naomi Watts deren Mutter Rose Mary, die hier wie der Fremdkörpe­r im New Yorker Society Leben der Tochter wirkt.
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