Eine Respektsperson
Wolfgang Schäuble ist der dienstälteste Abgeordnete im Bundestag. Nun wird er dessen Präsident und damit die neue Nummer zwei im Staate. Das nutzt auch der FDP
Wer, wenn nicht er? Seit 45 Jahren sitzt er im Bundestag, er war Fraktionsvorsitzender der Union, zweimal Innenminister und einer der Architekten der Einheit, acht Jahre Finanzminister und vor einer gefühlten Ewigkeit sogar beinahe Bundeskanzler – bis Helmut Kohl es sich wieder anders überlegte. Wer also, wenn nicht Wolfgang Schäuble, wäre prädestiniert für das Amt des Bundestagspräsidenten, das Norbert Lammert durch seinen Rückzug aus der Politik frei gemacht hat und das traditionell von der stärksten Fraktion besetzt wird?
Unter den mehr als 700 Abgeordneten ist Schäuble ein Solitär – nicht nur wegen seiner beeindruckenden Lebensbilanz. Der 75-Jährige hat sich mit den Jahren eine innere Unabhängigkeit antrainiert, die im politischen Berlin ihresgleichen sucht. Er muss nichts mehr werden, sich nichts mehr beweisen und hat längst auch mit Angela Merkel seinen Frieden gemacht, die ihm auf dem Höhepunkt der Spendenaffäre den Parteivorsitz der CDU abnahm und ihn später noch einmal tief enttäuschte, als sie ihn erst für die Nachfolge des damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau in Position brachte und ihn dann bei den anderen Parteien nicht durchsetzen konnte. Schäuble aber ist kein Mann, der verpassten Gelegenheiten lange nachtrauert. „S isch, wie ’s isch“, sagt er dann. Noch Fragen?
Nun wird er nach einer turbulenten Bundestagswahl die neue Nummer zwei im Staate – ein Amt, das von der Autorität seines Inhabers lebt und von der Kraft des Wortes. An beidem fehlt es Schäuble nicht. Wie sein Vorgänger würzt der gelernte Jurist seine Reden gerne mit einem Schuss Ironie, auch wenn die bei ihm immer ein wenig schärfer und spöttischer daherkommt als bei Lammert. Lange Zeit wurde ihm diese Bissigkeit als Folge vieler Ver- letzungen und Enttäuschungen ausgelegt, vom Attentat im Oktober 1990 bis zur Spendenaffäre nach der verlorenen Wahl 1998. Parteifreunde, die ihn gut und lange kennen, beobachten allerdings schon seit einiger Zeit einen anderen Schäuble. Aufgeräumter wirke er heute, sagt einer von ihnen, gelassener, dabei aber voller Energie. Den Eindruck, ist es sicher auch kein Zufall, dass die ersten Hymnen auf den neuen Parlamentspräsidenten nicht in der Union, sondern in der FDP gesungen werden. Schäuble werde dem Parlament nach außen Geltung verschaffen und nach innen Würde, prophezeit Parteichef Christian Lindner. Der Einzug der AfD in den Bundestag, soll das wohl heißen, verlangt an der Spitze des Hauses eine besondere Respektsperson.
Sein Nebenkanzleramt übergibt Schäuble in geordneten Verhältnissen: Der Haushalt ist ausgeglichen, das Steueraufkommen unverändert hoch und die Vergemeinschaftung der europäischen Schulden fürs Erste abgewehrt. Andere würden sich, erst recht in seinem Alter, jetzt vielleicht überlegen, ob sie sich nicht ins Private zurückziehen. Wolfgang Schäuble allerdings, so scheint es, kann ohne die Politik nicht und sie nicht ohne ihn. Zu Hause, sagt er gelegentlich, würde er vermutlich nur seiner Frau auf die Nerven gehen. Zu „So kam es zum AfD Durchmarsch“(Bundestagswahl) vom 25. September: Wahlumfragen bestätigen, die Wähler der AfD wählten diese zu großen Teilen nicht aus Überzeugung, sondern aus Enttäuschung über die Politik der anderen Parteien. Während das Land als solches wirtschaftlich prosperiert, haben große Teile der Bevölkerung seit zwei Jahrzehnten keinen Anteil mehr am Erfolg. Noch schlimmer: Immer mehr sorgen sich vor dem eigenen sozialen Abstieg und dem ihrer Kinder. Wenn der Glaube verloren gegangen ist, dass die eigene Lage verbessert werden kann, weil Umverteilung von den Reichen zu den Armen den Wirtschaftsstandort gefährde, dann kämpft der Verzweifelte auch mit verpönten Mitteln für die Verteidigung dessen, was ihm noch geblieben ist. Für 13 Prozent der Wähler war die AfD dieses verpönte Mittel, und wenn die anderen zukünftig im Bundestag vertretenen Parteien sich weiterhin weigern, allen Menschen im Land Anteil am wirtschaftlichen Erfolg dieses Landes zu gewähren, dann wird die AfD noch größere Erfolge feiern und das Land in einer Art umkrempeln, wie es sich keiner wünschen kann. Augsburg Zu „Wacklige Zeiten“(Die Dritte Seite) vom 26. September: Deutschland wird auch trotz des Wahlergebnisses nicht untergehen. Wenn der Kuchen zwischen den Koalitionären erst mal aufgeteilt ist und die Parlamentarier mit ihren Posten versorgt sind, wird nach all den hitzigen WahlkampfSpiegelgefechten plötzlich wieder eitel Wonne und Sonnenschein herrschen. Alles wird wieder seinen gewohnten Gang gehen, unsere Volksvertreter werden sich in die Arbeit stürzen und unsere Probleme zu ihrer besten Zufriedenheit lösen! Kirchdorf Zum Interview „Welche Fehler haben die Volksparteien gemacht?“(Bundestags wahl) vom 26. September: Herrn Güllner muss widersprochen werden, wenn er meint, die SPD müsse eine weitere Große Koalition erst ausloten. Abgesehen davon, dass ich vor der Wahl des Öfteren mit Variationen hören konnte, man würde ja die SPD wählen, wenn man wüsste, dass sie nicht mehr in eine GroKo eintreten und für die merkelsche Wischiwaschi-Politik den Steigbügelhalter machte, abgesehen davon müssen die Sozialdemokraten anstelle von Allgemeinplätzen wie Gerechtigkeit o. Ä. konkret formulieren, was für die nächste Zeit dringlich ist. Zum Beispiel die Rentenfrage.
Angesichts drohender Altersarmut muss aus der Riesterrente, von der sich gezeigt hat, dass diejenigen, die sie bräuchten, sie nicht finanzieren können, ausgestiegen werden. Das frei werdende Geld muss in die Rentenkassen fließen. Da offensichtlich die Binnenwirtschaft und der Export brummen, ist es nicht mehr recht als billig, dass zurückgegeben wird, was Schröder mit der Agenda 2010 der Wirtschaft beschert hat: Die Rentenbeiträge der Arbeitgeber müssen wieder denen der Arbeitnehmer angeglichen werden usw.
Augsburg Schmieden einer mehrheitsfähigen Regierung? Mein Vorschlag: Große Koalition mit Martin Schulz als Kanzler – der es ja sowieso unter allen Umständen werden wollte; Frau Merkel übernimmt die ihr so wichtige „persönliche Verantwortung“(als Vize?); das schwierige, wenn nicht unmögliche Schmieden einer Jamaika-Koalition erübrigt sich; wir genießen eine, wie schon bewiesen, konsensfähige Regierung.
Friedberg Ebenfalls dazu: Bei uns in Köln sagt man, wenn einer nichts zu bieten (weil, hier ja kleinste Partei mit großen Verlusten) hat, sich aber aufführt wie ein Großer: „Dä hätt nix in dr Täsch, dät äver ne dicke Molli makiere.“
Die Führung der CSU leidet langsam unter einem Realitätsverlust, wenn sie nicht erkennt, dass man sie auf ein gesundes Maß für Deutschland und Bayern reduziert hat. Seehofer und sein Anhang führen sich bei der Obergrenze auf wie quengelige Kleinkinder.
Neuburg Zu „Die CSU ist ins Mark getroffen“(Bundestagswahl) vom 25. September: Unser Wahlsystem lässt für die CSU bzw. Herrn Seehofer die Tragik von Goethes „Zauberlehrling“erkennen: „Ich rief die Geister und werde sie nicht mehr los.“Die Bürger sind mit der Arbeit der Regierung unzufrieden, können aber die „Verursacher“in Berlin nicht direkt abwählen und jedes Mal, wenn man in Bayern die CSU wählt, werden automatisch die „Verursacher“mit gewählt. Wie es scheint, gingen deshalb viele Bürger – auch in Bayern – nicht zur Bundestagswahl bzw. wählten „fremd“. Deutlich zu erkennen waren in diesem Zusammenhang kurz nach Bekanntgabe der Wahlergebnisse auch die Absage von SPD, als zukünftiger Koalitionspartner zur Verfügung zu stehen, und die zögerlichen Aussagen von FDP und der Grünen, in einer Koalition Verantwortung zu übernehmen. Es scheint, keiner möchte mehr mit Frau Merkel als Kanzlerin koalieren; nur die CSU muss. Aber die 18. Landtagswahl im Herbst 2018 in Bayern wird die CSU wieder in alter Stärke erstrahlen lassen: „Gott mit dir, du Land der Bayern.“ Augsburg Zu verschiedenen Berichten: Natürlich kann die Union AfDWähler zurückgewinnen. Aber nicht mit einer Kanzlerin Merkel.
Kaufbeuren Ebenfalls dazu: In Ihrer Nachwahlberichterstattung steht die Aussage von Minister Müller: Viele aus meiner Partei werden jetzt aufwachen, nach dem Motto: Einfach weiter so geht es nicht mehr. Dazu passt dann die Aussage der Kanzlerin „In der Ruhe liegt die Kraft“wohl eher weniger. Nun liegt es an den Abgeordneten, dafür zu sorgen, dass die nächsten vier Jahre nicht so in Ruhe vor sich hinplätschern.
Die CSU hat es natürlich besonders schwer, in einem Jahr sind Landtagswahlen. Da wird die Kraft der Ruhe nicht reichen.
Scheidegg