In der guten Stube der Neandertaler
Im Bockstein lebten die Vorfahren des modernen Menschen vor 70000 Jahren. Ein Geheimnis wurde erst jüngst gelüftet
Sechs Höhlen der ältesten Eiszeitkunst im Ach- und Lonetal stehen seit 9. Juli auf der Welterbeliste der Unesco. Der Löwenmensch, die Venus vom Hohle Fels, ein Mammut aus Elfenbein und viele andere wertvolle Kunstwerke wurden dort entdeckt. In einer losen Serie stellen wir die Fundorte vor. 20 Jahre später Oberförster Ludwig Bürger aus dem nahegelegenen Städtchen Langenau gemeinsam mit Pfarrer Dr. Friedrich Losch aus Öllingen den Bockstein. Um einen leichten Zugang und genügend Licht in der Höhle zu haben, ließen die Forscher erst mal die vordere Felswand wegsprengen. Das große Loch in der Wand ist noch heute aus der Ferne in zehn Metern Höhe gut zu erkennen. In den insgesamt vier unterschiedlich geräumigen Höhlen im Bockstein fanden Bühler und Losch neben eiszeitlichem Werkzeug und Tierresten die Bestattung einer Frau mit Kind. Ein Jahrzehnte währender Streit setzte ein um das Alter der Skelette. Forstmann Bürger war überzeugt, eine alte Grabstätte entdeckt zu haben, weil sie doch in einer tiefen Bodenschicht gelegen hatte. Ein württembergischer Anthropologe, der die menschlichen Überreste im Jahr 1884 untersuchte, kam zum Schluss, die von Bürger geborgenen Skelette seien höchstens 200 bis 300 Jahre alt. Fast gleichzeitig sprach ein Bonner Anthropologe den Knochenresten ein Alter von mindestens 2000 Jahren zu. Dann aber grub 1898 ein nach Ludwig Bürgers Tod der Pfarrer der nah dem Bockstein gelegenen Ortschaft Öllingen einen Eintrag im Totenregister der Gemeinde aus. Anna Eiselin, im dritten Monat schwanger, hatte sich am 6. Juli 1739 das Leben genommen, hieß es dort. Weil eine Selbstmörderin nach damaliger Auffassung auf dem Öllinger Gemeindefriedhof nicht beJahr stattet werden durfte, wurde die Leiche laut Eintrag „in das Holtz in dem Lonthal in einen Felsen gelegt“. Das Problem schien gelöst. Unkritisch wurde fortan der Bürgersche Fund mit der Öllinger Selbstmörderin gleichgesetzt. Definitiv beendet wurde der Streit erst vor wenigen Jahren mithilfe einer Radiokarbondatierung. Demnach waren Frau und Kind vor gut 8000 Jahren gestorben. Sie gelten heute als eine der seltenen Ganzkörperbestattungen der Mittelsteinzeit in Süddeutschland.
Jahrzehnte nach Bürgers Grabungen, im Frühjahr 1932, machte sich der Anatomieprofessor Robert Wetzel auf den Weg ins Lonetal. Er hatte von den eiszeitlichen Funden Gustav Rieks im Vogelherd erfahren und wollte nun mal selbst in der Eiszeit nachsehen. Tatsächlich sollte Wetzel, der ab 1936 das anatomische Institut für Urgeschichte und Paläontologie der Universität Tübingen leitete, wenige Jahre später im Hohlenstein den „Löwenmenschen“finden.
Im Bockstein war er weniger erfolgreich. Zwar hatten Ortskundige ihn auf Felsspalten hingewiesen, in denen immer mal wieder Füchse verschwanden. Doch Wetzel, der im Bockstein in den Jahren 1933 bis 1935 und erneut nach dem Zweiten Weltkrieg von 1953 bis 1956 grub, fand in der eigentlichen Höhle lediglich ein paar aus Elfenbein geschnitzte Perlen und Ringe. Erfolgreicher waren die Grabungen in den kleineren Öffnungen von Bocksteinschmiede und Bocksteinloch, in denen steinerne Werkzeuge gefunden wurden, die der Neandertaler vor 70 000 Jahren geschlagen hat.
Damit gilt der Bockstein als ältester Siedlungskomplex dieses ausgestorbenen Verwandten des Menschen in Süddeutschland. Übrigens hat der Welterbetitel verhindert, dass der Energieversorger En-BW oberhalb des Lonetals auf Öllinger Gemarkung drei etwa 230 Meter hohe Windräder aufstellt. Nach Auffassung des Landesdenkmalamts stünde „der visuelle Wirkbereich der Windkraftanlagen“dem öffentlichen Schutzinteresse der Eiszeithöhlen und ihrer landschaftlichen Umgebung entgegen. O
Der Bockstein liegt rechts der Straße von Öllingen nach Bissingen. Vom Wanderparkplatz im Lonetal ist er bereits zu sehen. Wegweiser führen durch den Wald zum Fuß des Felsens. Möglich ist aber auch, längs der Straße und bald auf einem Feldweg dorthin zu wandern. Der Anstieg zu beiden Höh len ist allerdings sehr steil, sehr schmal und vor allem bei Feuchtigkeit sehr glitschig. Auf dem Gipfel des Bockstein steht eine Schutzhütte mit Bänken.