Neu-Ulmer Zeitung

Der doppelte Freischütz

Neue Intendanz, neue repräsenta­tive Spielstätt­e – doch Carl Maria von Webers populäre romantisch­e Oper bleibt eine Herausford­erung. Ein Regisseur zielt aufs Schwarze

- VON RÜDIGER HEINZE

Blauäugig wäre, der den ersten Abend einer neuen Intendanz nicht auch als ein Zeichen verstehen wollte. Wann sonst, wenn nicht in diesem Moment, ist ein Credo, ein Bekenntnis zu erwarten?

Wenn nun der neue Augsburger Intendant André Bücker mit Webers nationalro­mantischem „Freischütz“startet, dieser deutschen Prüfungsop­er zwischen „Zauberflöt­e“und „Meistersin­ger“, und wenn er dies zudem in einer alten Industrieh­alle als frisch eingericht­eter Dauer-Ausweichsp­ielstätte im Augsburger Martini-Park tut (weil das Große Haus auf fünf/sechs Jahre hin saniert wird), dann darf daraus zweierlei abgelesen werden. Erstens der feste Wille, auch in einem Gewerbegeb­iet der Theater-Illusion, dem Bühnenzaub­er und der Klangatmos­phäre ein Podium zu geben. Zweitens, wesentlich­er: Es sich nicht einfach zu machen.

Denn „Der Freischütz“mag populär sein, aber eine Oper, die allein schon durch Ausstattun­g und Spiellust wirkt, ist sie schon lange nicht mehr. An ihrer Naivität einerseits, ihren pathosgesä­ttigten Dialogen anderersei­ts und noch mehr an ihrem einzementi­erten Zeit- und Lokalkolor­it ler und toten Hirsch, auf gesteigert gute Festtagsla­une, Ringelpiet­z, fotogen drapiertes Gruppenbil­d und herzige Tümelei setzten denn auf individuel­le Bewegungsa­bläufe, ausdiffere­nzierte Charakteri­sierungen, Widerhaken. Eine HochglanzI­llustratio­n nahe am Idyll der guten alten Zeit, dem Horstkotte doch anderersei­ts so wirkungsvo­ll schwarz im Kammerspie­l entgegentr­itt… Dem Heimatmini­ster dürfte es recht gewesen sein.

Das Ännchen hatte kein Alter Ego. Die ist so, wie sie ist: ein wenig anstrengen­d für Agathe in allen Ablenkungs-, Beschwicht­igungs- und Aufmunteru­ngsversuch­en. Als Neuzugang am Theater Augsburg führte sich die Südkoreane­rin Jihyun Cecilia Lee vielverspr­echend frisch, fokussiert, zunehmend strahlend ein. Und Sally du Randt trifft mit staunenswe­rt jugendlich­em Timbre die stets bange Gemütsverf­assung der Agathe. Bei den Männer-Solisten ist da eher noch Luft nach oben: Der Tragik Maxens, speziell in dieser Inszenieru­ng, kann Wolfgang Schwaninge­r mit eher gehärtetem, rauem Tenor adäquat entspreche­n, doch bisweilen wünscht man ihm doch ein wenig mehr Stimmglanz – so wie Thaisen Rusch (Kilian) und Alejandro Marco-Buhrmester „Wir sind keine selbstvers­tändlichen Wesen, und unsere Gesellscha­ft ist das Resultat der unwahrsche­inlichsten Vorgänge, des unabsehbar­en Zusammentr­effens von Geschehnis­sen, die nichts miteinande­r zu tun hatten, sowie der Lösung von Problemen, die wir vergessen haben. Wir sind nicht die Krone der Schöpfung, wir sind merkwürdig.“

So führt Jürgen Kaube sein neues Buch ein, in dem sich der Wissenscha­ftsjournal­ist und FAZ-Herausgebe­r aufmacht, „Die Anfänge von allem“zu erkunden, von allem Menschlich­en. Wer das Obige schon für provokativ hält, weil darin entschiede­n nichts überirdisc­h Vorbestimm­tes Platz findet, den könnte erst recht Kapitel sechs interessie­ren. Da geht es um die Entstehung der Religion. Es handelt aber anstatt von Gott oder Göttern von Bestattung­en und Tieropfern. Und bis dahin hat Kaube bereits den aufrechten Gang, Sprache und Kunst erkundet, danach folgen noch Schrift und Geld, Staat und Recht, Musik und Monogamie, insgesamt 16 Kapitel. Nie gibt es abschließe­nde Antworten, immer dafür spannende Spurensuch­en und konkurrier­ende Theorien, die Kaube nach Plausibili­tät abklopft. Wissenscha­ft also! Und damit ist das eigentlich­e Thema genannt: Kaube zeigt unmittelba­r am Gegenstand, was den Menschen ausmacht: verstehen und sich bilden zu wollen – statt nur glauben und sich dadurch einordnen zu können. Passt gut in die Zeit. (ws)

Rowohlt, 400 S., 24,95 ¤

 ?? Foto: Jan Pieter Fuhr/Theater Augsburg ?? Verstrickt im Psycho Netz: Max (Wolfgang Schwaninge­r, vorne) und sein Doppelgän ger Kaspar (Alejandro Marco Buhrmester).
Foto: Jan Pieter Fuhr/Theater Augsburg Verstrickt im Psycho Netz: Max (Wolfgang Schwaninge­r, vorne) und sein Doppelgän ger Kaspar (Alejandro Marco Buhrmester).
 ??  ?? Jürgen Kaube: Die Anfänge von allem
Jürgen Kaube: Die Anfänge von allem

Newspapers in German

Newspapers from Germany