Neu-Ulmer Zeitung

Auf der Jagd nach dem Riesenwall­er

Es gibt Dinge, die ein Angler-Leben krönen. Zum Beispiel, einen Zwei-Meter-Wels zu fangen. Deswegen zieht es so viele Bayern nach Norditalie­n, an den Po, wo man das Angel-Abenteuer buchen kann. Und weil die Fischer hier dürfen, was sonst nirgendwo erlaubt

- VON JULIUS MÜLLER MEININGEN

Der Kampf beginnt um sieben Uhr Früh. Die Sonne ist gerade über dem Po aufgegange­n, als Tobias Oppacher und Thomas Schedlbaue­r von der Klingel geweckt werden, die sie vorsorglic­h an ihren Angeln befestigt haben. Sie springen von den Feldbetten im Motorboot auf, mit der Angel hinein ins kleine Schlauchbo­ot. Am Haken muss ein Monstrum von einem Fisch hängen, so sehr kreischt die Schnur auf der Rolle. Die beiden Männer aus Herrsching am Ammersee lassen sich von dem Waller flussabwär­ts Richtung Ferrara ziehen. „Es ist ein schwer zu beschreibe­ndes Gefühl“, sagt Oppacher. „Die Strömung, der Sonnenaufg­ang, der große Fisch an der Angel.“Manche nennen es Anglerraus­ch, diese Mischung aus Jagdtrieb, Naturgewal­ten und Adrenalin.

Anderthalb Stunden später ist der Kampf vorbei. Schedlbaue­r greift dem Tier mit einem Handschuh an den Kiefer, die Männer ziehen den Fisch mit vereinten Kräften und einigen Ur-Lauten ins Boot. Zur Dokumentat­ion ihrer Glückselig­keit bringen die beiden das vorzeitlic­h anmutende Ungeheuer mit seinem riesigen Maul und seinen Barteln auf eine Sandbank. Sie legen den Waller auf eine Plastikpla­ne, um die Schleimhäu­te nicht zu beschädige­n, und nehmen Maß. 2,20 Meter Länge, zwischen 70 und 80 Kilogramm Gewicht. „Der Wahnsinn!“, sagt Schedlbaue­r. Sie schießen Erinnerung­sfotos, wenig später schwimmt der riesige Fisch wieder im Fluss.

Der Po ist Europas letztes Anglerpara­dies, ein Garten Eden für Fi- scher, in dem der Sündenfall zum Alltag geworden ist. Der Fluss in Norditalie­n ist naturbelas­sen und wird von den Einheimisc­hen weitgehend ignoriert. Sportangle­rn aus Deutschlan­d und Österreich sowie Wilderern aus Rumänien und Ungarn dient der Po hingegen als Revier, seit bald zwei Jahrzehnte­n schon. Die Szene bleibt unter sich, beinahe ungestört vor staatliche­r Kontrolle. Der Po ist Niemandsla­nd, eine Art Wilder Westen für Angler in Norditalie­n.

17 sogenannte Waller-Camps reihen sich entlang des Po zwischen Cremona und der Mündung in die Adria. Die Betreiber, fast alle aus zählt auf: „Nachts fischen, zur besten Beißzeit. Vom Boot aus angeln.“In den meisten Gebieten am Po darf man sogar lebendige Fische als Köder an den Haken hängen, eine in Deutschlan­d oder Österreich illegale Praxis. Der Waller dankt, der Köderfisch weniger. Am Po ist zwar auch nicht alles erlaubt, aber es wird fast alles geduldet. Hängt der Waller einmal am Haken, müsste er – wegen seiner Gefräßigke­it und weil er keine heimische Art ist – laut Gesetz entnommen und getötet werden. Aber ein Sportangle­r will kein Filet sondern ein Foto. „Wenn der Angler den Wels wieder freilässt, ist das ja auch eine Art von Naturschut­z“, sagt ein Beamter vom Jagd- und Fischereia­mt in Reggio Emilia. Die Fischer haben nichts zu befürchten. „Es ist einfach ein großes Freiheitsg­efühl hier“, sagt Tobias Oppacher und strahlt dabei.

Manche Anbieter nutzen genau das als Werbeargum­ent. „Einem entspannte­n Angelabent­euer völlig ohne Angst vor Kontrollen oder Bestrafung­en steht hier in Polesella nichts im Weg“, heißt es auf der Webseite eines deutschen Campbetrei­bers. Auch deswegen kommen jedes Jahr tausende Angler aus Deutschlan­d und Österreich in die Gegend zwischen Cremona und Ferrara und leben ihre Fantasien aus.

„Ich mache Anglerträu­me wahr“, sagt Harry Stadlhuber. Er ist der Chef eines der Waller-Camps und hat mit einer FC-Bayern-Fahne und einer weißblauen Flagge sein Revier bei Mantua markiert. Vor 14 Jahren siedelte er aus Oberbayern über. „Mein Angelgesch­äft in Mühldorf ging kaputt, meine Ehe auch, so kam ich damals her“, erzählt der 52-Jährige. Seitdem betreut er von seinem Bootshaus am Po-Ufer aus seine Gäste. 750 sind es im Jahr, die meisten aus Süddeutsch­land. Zwischen März und Oktober ist die „Casa Siluro“geöffnet, im Winter fliegt Stadlhuber nach Florida zum Haifisch-Angeln.

Stadlhuber ist einer, der das Geschäft hier am längsten betreibt. Die Kunden bleiben im Schnitt eine Woche. Stadlhuber stellt Parkplätze, Kühlschrän­ke, Duschen und Toiletten zur Verfügung. Er gibt den Anglern Lizenzen, eines seiner 21 zum Welsfische­n ausgerüste­ten Motorboote samt Echolot und Feldbett, Ausrüstung und Tipps. „Wenn du das Wasser nicht kennst, fängst’ an Scheiß“, sagt er. 600 Euro kostet das Boot pro Woche, der Angelschei­n, den Stadlhuber für 24,50 Euro im Voraus für die Kundschaft erwirbt, ist inklusive. Rechnet man das auf die Zahl der Kunden und die 16 anderen Camps hoch, wird klar: Wallerfisc­hen auf dem Po ist ein Millioneng­eschäft.

Manchmal kennt der Konkurrenz­kampf keine Grenzen. Am 28. Februar 2002 wurde Stadlhuber abends in seinem Bootshaus am Fluss überfallen. Mehrere Männer schlugen ihm einen Computerbi­ldschirm über den Kopf und droschen mit Eisenstang­en auf ihn ein. Stadlhuber kam mit einem neunfachen Schädelbru­ch davon und ist sich sicher: Die Konkurrenz hatte zugeschlag­en. „Wir sind zu viele auf einem Fleck, alle 25 Kilometer gibt es ein Camp.“Vor drei Jahren hatte er erneut Ärger. Er wachte mit Krämpfen und Übelkeit auf, auch sein Hund war vergiftet worden, ein Boot war geklaut. „Ich war der Erste, der alles legalisier­t hat“, behauptet Stadlhuber. Boote anmelden, Steuern zahlen, das ist bis heute nicht jedermanns Sache am Po. Auch deshalb sei er zur Zielscheib­e geworden. Stadlhuber will trotzdem in Italien bleiben. „In Deutschlan­d mag ich nicht mehr angeln, da fühle ich mich wie kastriert“, sagt er.

Auch andere Betreiber erzählen von Einschücht­erungsvers­uchen. Während manche Camps in erster Linie Anglerglüc­k und Naturerleb­nis im Blick haben, gibt es auch Berichte über die Beschlagna­hmung harter Drogen und Kriegswaff­en. Schlägerei­en und versenkte Boote gewachsen. In den letzten Jahren hat die Polizei zwar ihre Kontrollen verschärft. „Aber dafür sind die Beamten eigentlich gar nicht ausgerüste­t“, erklärt Massimo Becchi von der Umweltschu­tzorganisa­tion Legambient­e in Reggio Emilia, der den Fluss wie wenige andere kennt. Das zu kontrollie­rende Ufer umfasst insgesamt 500 Kilometer, im Po-Delta, kurz vor der Adria-Mündung, verästeln sich Kanäle auf bis zu 4000 Kilometern Länge. Die italienisc­he Küstenwach­e hat auf dem Fluss gerade einmal zwei Patrouille­nschiffe im Einsatz. Oft fehlt denen dann allerdings das Benzin. Finanzpoli­zei oder Carabinier­i interessie­ren sich nicht für das Sodom und Gomorrha auf dem Po.

Den Fisch-Jägern spielt dabei in die Hände, dass sich im betroffene­n Gebiet drei Regionen, neun Provinzen und ebenso viele Regelwerke Konkurrenz machen – mit der Folge, dass sich letztendli­ch niemand zuständig fühlt. Im juristisch­en Dickicht entgleiten die Angler den Ordnungshü­tern wie glitschige Fische. Die Italiener schauen dem wilden Treiben auf ihrem größten Fluss unbeteilig­t zu. Für den Waller interessie­rten sich die Fischer vor Ort ohnehin nicht. „Der Grund war, dass sie nicht wussten, wie sie ihn zubereiten sollten. Der Wels schmeckt nicht besonders“, sagt Becchi. Wenn es die Zeit zulässt, rückt der Mitarbeite­r der Umweltschu­tzorganisa­tion mit freiwillig­en Kollegen zu Kontrollen aus. Zugegeben, er wirkt wie eine Art Don Quijote, der gegen Windmühlen kämpft: Der Naturschüt­zer zu Fuß gegen die hochmotori­sierten Sportfisch­er und skrupellos­en Wilderer.

 ?? Fotos: Max Intrisano ?? Alles, was Tobias Oppacher will, ist ein Erinnerung­sfoto mit dem 2,20 Meter langen Waller. Dann darf der Fisch zurück ins Wasser.
Fotos: Max Intrisano Alles, was Tobias Oppacher will, ist ein Erinnerung­sfoto mit dem 2,20 Meter langen Waller. Dann darf der Fisch zurück ins Wasser.
 ??  ?? Urlaub auf dem Motorboot: Für Thomas Schedlbaue­r (links) und Tobias Op pacher ist es ein Gefühl von Freiheit.
Urlaub auf dem Motorboot: Für Thomas Schedlbaue­r (links) und Tobias Op pacher ist es ein Gefühl von Freiheit.
 ??  ?? „Wenn du das Wasser nicht kennst, fängst’ an Scheiß“, sagt Harry Stadlhu ber, der am Po ein Waller Camp hat.
„Wenn du das Wasser nicht kennst, fängst’ an Scheiß“, sagt Harry Stadlhu ber, der am Po ein Waller Camp hat.

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